Joseph Bédier (1864-1938) hat in seiner Ausgabe des Tristanromans von Thomas1 versucht, die Tristandichtungen, die auf uns gekommen sind, auf ein französisches Gedicht des 12. Jahrhunderts zurückzuführen.

Die Werke, die er unter diesen Archetyp bringt, sind

  1. Eilhart von Oberge, Tristrant und Isalde (um 1170).

  2. Béroul, Tristan et Yseut (um 1180-1190, die Fortsetzung nach 1191).

  3. Thomas, Tristran et Ysolt (um 1160-1170 oder 1180-1190) und damit auch Gottfried, Tristan und Isold (um 1205-1210, eventuell bis 1215).

  4. Der altfranzösische Prosaroman (um 1215-1230).

  5. Die altfranzösischen Episodengedichte von Tristan dem Narren (die Berner und die Oxforder Folie Tristan) und Marie de France, Lais de Chievrefoil (um 1165).

Béroul spricht einmal von der Geschichte (estoire), die er geschrieben fand (Verse 1789 f.). Danach wird diese gemeinsame Quelle, das poème primitif, Estoire genannt.

Die literaturwissenschaftliche Forschung stimmt Bédier insoweit zu, daß den genannten Werken schriftliche Dichtungen vorausgehen – die nicht auf uns gekommen sind -, daß man aber nicht auf ein großepisches Gedicht schließen könne, da die Variationsbreite und die Differenzen zu groß seien. Thomas᾿ und Gottfrieds ausgefeilte Buchdichtungen etwa bedürften einer anderen ‘Vorlage᾿ als die Übersetzung Eilharts und Bérouls mehr spielmännische, dem mündlichen Vortrag nähere Fassung der Tristansage. Statt der einen Estoire werden folglich „Estoire-Stufen“ 2 angenommen, die den ganzen Stoff der genannten Werke enthalten. Auch die Episodengedichte, die ja nur vor dem Hintergrund des ganzen Romangeschehens Sinn machen, setzten das eine große poème primitif nicht voraus. Neben den verschiedenen Stufen der Estoire „konnte der Ablauf der Geschichte ... bereits in anspruchsloseren Formen mündlicher Berichte verfügbar sein. ... Es ist also eine unzulässige Simplifikation, von einer version commune auszugehen.“ 3 Bédier, so lautet die Kritik, habe die erhaltenen Dichtungen kompiliert, einmal dieser, dann der anderen den Vorzug gegeben und somit die version commune ‘nach dem Geschmack, dem Empfinden und der Logik, die ihn bei der Untersuchung der Werke geleitet habe᾿, konstruiert.4

Nun hat Bédier den (fraglichen) Archetyp, die eine Estoire, nicht nur rekonstruiert, sondern auch nacherzählt: Le Roman de Tristan et Iseut. 5 Dankenswerter Weise ließ sich Bédier hier von seinem Geschmack, seinem Empfinden und der Logik, mit der er die erhaltenen Werke untersucht hat, leiten. Das Ergebnis ist ein bemerkenswertes Buch, in dem die philologische Arbeit versteckt ist und die Synthese der verschiedenartigen Überlieferungen mühelos gelingt. Diese Estoire jedenfalls ist ihm geglückt und wir konnten beim Resümieren des Romangeschehens immer wieder auf sie zurückgreifen.

Im ersten Teil unserer Unternehmung griffen wir weit vor und lasen Gottfrieds Verse 18266-18344 aus der Abschiedsrede der Liebenden. Danach behandelten wir die Stoffgeschichte von der erschlossenen inselkeltischen Tristandichtung über die (wahrscheinlichen) *Estoire-Stufen bis zur Fassung, die Thomas und Gottfried vorlagen.

A.  Einleitung Aus der Abschiedsrede im Baumgarten  (Verse 18266 – 18344)

B.  Die keltische Tristandichtung   immram und aithed

C.  Die anglo-normannische *Estoire I   um 1130

D.  Vergleich der *Estoire I mit der keltischen Dichtung

E.  Die *Estoire II um 1150   (mit der Vorgeschichte: Tristans Eltern und seiner Herkunft und der Fortsetzung: Isolde mit den weißen Händen und der Tod der Liebenden).

F.  Die Stoffgeschichte im Überblick   (handschriftliche Tischvorlage)

Der zweite Teil war Gottfried gewidmet. Nach einer Inhaltsangabe (und somit einem Resümee der *Estoire II) in Siebenmeilenstiefeln konzentrierten wir uns auf die Liebestrank-Szene und die Minnegrotte und lasen die Verse 11645-12506 und 166679-16984 in Auszügen.

Wir schlossen mit den Versen 44 - 66 und 123 - 130 aus dem Prolog des Romans.

Textgrundlage: Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold. Herausgegeben von Walter Haug und Manfred Günther Scholz. Mit dem Text des Thomas herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Walter Haug. Zwei Bände. Deutscher Klassiker Verlag, Berlin 2011 und Inselverlag, Leipzig 2012 (€ 29,90).

Literatur: Zur besten Vor- und Nachbereitung empfehle ich:

  • Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, Berlin 1967, S. 43-52: Der alte Tristanroman und Bd. 2, Berlin 1980, S. 203-261: Gottfried von Straßburg.
  • Friedrich Ranke, Tristan und Isold (Bücher des Mittelalters), München 1925. Mit Texten und Übersetzungen aus dem Altfranzösischen, Mittelhochdeutschen und Isländischen.
  • Sidney M. Johnson, The Drink Will Be the Death of You. Interpreting the Love Potion in Gottfried᾿s Tristan. In: Will Hasty (Ed.), A Companion to Gottfried von Strassburg᾿s Tristan. Rochester (NY) 2003, p. 87-112. Forschungsbericht.
  • Friedrich Ranke, Die Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan (1925). In: Alois Wolf (Hrsg.), Gottfried von Straßburg (Wege der Forschung), Darmstadt 1973. Aufsatzsammlung.
  • C. Stephen Jaeger, The Crown of Virtues in the Cave of Lovers Allegory. In: Euphorion 67 (1973), S. 95-116.

 

1  Joseph Bédier, Le Roman de Tristan par Thomas, 2 Bände, Paris 1902 und 1905.

2  Rüdiger Brandt, Einführung in das Werk Gottfrieds von Straßburg, Darmstadt 2012, S. 63.

3  Alois Wolf, Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde, Darmstadt 1989, S. 57.

4  Gertrude Schoepperle, Tristan and Isolt. A Study of the Sources of the Romance. Frankfurt a. M. 1913. Second ed. Expanded by a bibliography and critical essay on Tristan Scholarship since 1912 by Roger Sherman Loomis, New York 1969, p. 8.

5  Seit dem ersten Druck, Paris 1900, bis zur Edition critique par Alain Corbellani (Genf 2012) in dreißig Auflagen erschienen. Die Übersetzung von Rudolf G. Binding (im Inselverlag, Leipzig 11911 u.ö.) wurde zur Vorbereitung empfohlen.