Jedes Ding ist ein „dieses da“, es ist dieses und nicht jenes, es hat Größe, Farbe, Position, …; als bestimmtes Einzelding ist es ein Zusammenganzes aus Form und Materie, z.B. im Falle dieser Flasche hier ein Zusammenganzes aus seinem Flasche-Sein und dem Glas. Die Form konstituiert es in seiner Ganzheit, die übrigen Bestimmungen kommen hinzu. Die Form ist die Sache aber nicht nur so, wie sie jetzt vorliegt, sondern wie sie in ihrer vollen Verwirklichung sein kann, z.B. ist in diesem Sinne die Form des Jungen der Mann. Die Form ist, „das was es für die Sache schon war zu sein“. Der Reichtum der im Einzelnen verwirklichten Form zeigt sich in dem Beispiel des Jungen/Mannes, er wird noch deutlicher in der Fortpflanzung, der Mensch zeugt den Menschen, gezeugt wird ein neues Individuum – nicht ein Duplikat (Hinweis dazu: Das ist umso bemerkenswerter, als nach Aristoteles der Vater die Form und die Mutter die Materie beisteuert). Aristoteles legt den Akzent auf die im Einzelding verwirklichte Form, das sogenannte „immanente Eidos“. Stirbt der letzte Mensch, wäre damit für Aristoteles auch die Form „Mensch“ verschwunden. Platon würde den Akzent anders setzen; während bei Aristoteles die im Einzelding verwirklichte Form im Mittelpunkt steht, würde Platon die Betonung auf die vom Einzelding unabhängige Fülle der Seinsmöglichkeiten in Einheit legen und die Form als Seiendes vom Einzelding als Werdendem unterscheiden. Die Platonische Idee wird durch das Entstehen und Vergehen der Einzeldinge nicht affiziert. Für unsere Fragestellung ist festzuhalten: Die Besonderheit der Dinge ist primär bei ihrer Form zu suchen, nicht in der Fülle der hinzukommenden Bestimmungen.

Wenn wir nach er Form des Menschen fragen, dann müssen wir uns mit dem beschäftigen, was Platon und Aristoteles als Seele bezeichnet haben. Platon bestimmt Seele als eine Bewegung, die anderes und sich selbst bewegen kann, sie ist Ursprung von Bewegung. Die Selbstbewegung ist bei Pflanzen das Wachstum aus dem Keim und die Selbsterhaltung, bei Tieren zusätzlich die Wahrnehmung und die Fortbewegung, bei Menschen zusätzlich das Vermögen von Vorstellung (Phantasie), Begriffsbildung und Denken. Die Bewegung der Seele ist ein Hervorbringen von Formen als Werden in der Welt und im Erkennen (Wahrnehmen, Meinen, Denken). Die Seele eines Menschen ist eine Seele, die sich in unterscheidbaren Vermögen äußert. Die Unterscheidung erfolgt methodisch, indem vom Werk auf das ein Werk hervorbringende Vermögen geschlossen wird und anhand des Prinzips vom zu vermeidenden Widerspruch. Das Werk ist ein bestimmtes Wollen/Streben, dasselbe Vermögen kann nicht zugleich dasselbe wollen und nicht wollen.

Platon unterscheidet – in dem für uns relevanten Kontext – drei Seelenvermögen: Begehren, Eifer und Denken. Diese sind drei Formen des Strebens, je mit spezifischem Fühlen (Lust/Unlust) und einer charakteristischen Form der Erkenntnis; sie sind aber nicht drei unabhängige Agenten im Menschen, der Mensch wird nicht zerrissen. Beim Begehren ist zunächst an Hunger/Durst und sexuelle Begierde zu denken, dann aber auch an Geldgier als Gier nach dem, womit sich jene Begierden leicht befriedigen lassen. Die zugehörige Erkenntnis ist das Wahrnehmen, das Fühlen, die sinnliche Lust. Beim Eifer ist z.B. an Zorn, verletztes Gerechtigkeitsempfinden oder Schamgefühl, Ehrgeiz oder Machtstreben zu denken; die dem Eifer charakteristische Erkenntnis ist das Meinen. Das Denken als Strebeform zeigt sich im Erkenntnisstreben/dem Wissenseros, Platonisch als Streben nach Ideenerkenntnis oder etwas profaner im Bemühen eines Mathematikers um den Beweis eines mathematischen Satzes.

Die drei Strebeformen sind Grundlage für das, was Platon als Tugend oder Tauglichkeit bezeichnet. Tauglichkeit ist die bestmögliche Formung, um ein spezifisches Werk zu vollbringen, z.B. bei den Augen das Sehen, bei den Ohren das Hören. Was ist nun das spezifische Werk des Menschen? – Der Mensch vollbringt eine große Vielfalt an Werken: Als Organismus wächst er und pflanzt sich fort, im Sinne der o.g. Vermögen nimmt er wahr, begehrt, meint etwas, ereifert sich und denkt; er treibt Handwerk, Politik, Kunst, Wissenschaft. Im Sinne der Unterscheidung von anderen Lebewesen ist das Denken hervorzuheben, aber das Mensch-Sein erschöpft sich nicht im Denken. Das spezifische Werk des Menschen ist er selbst als Individuum.

Um das genauer zu verstehen, ist das Verhältnis der drei Strebevermögen zueinander genauer zu betrachten. Dieses Verhältnis der Strebevermögen zueinander ist, wovon die Analyse der sogenannten Einzeltugenden in der Politeia handelt (hier nur schlagwortartig angedeutet): Tapferkeit ist danach das Vermögen (nicht nur die Möglichkeit) die Meinung von dem zu Fürchtenden durch alles (i.e. alle Anfechtungen) zu retten. Besonnenheit ist die schöne Ordnung der Strebevermögen. Im Sinne der Sprechweise, jemand sei „stärker als er selbst“, ist er „schwächer als er selbst“, wenn er sich beherrschen lässt von einem anderen als dem für gut erkannten Streben. Gerechtigkeit ist das Tun des Seinen; für die Strebevermögen ist es das Vollbringen des jeweils spezifischen Werks, für den Menschen ist es die je individuelle Entwicklung und Entfaltung seiner Begabungen, z.B. als Handwerker, Krieger, Herrscher. Die Weisheit ist das Wissen, durch das ein Handelnder das Richtige trifft; darauf zielt insbesondere das Ideenwissen der zentralen Bücher der Politeia.

Charakter ist die feste Haltung eines Menschen aus bestimmten Neigungen und Abneigungen im Verhältnis zu Lust und Unlust; ein Mensch, der einen Charakter ausgeprägt hat, wird nicht jeder Lust nachjagen, sondern die eine eher suchen, die andere eher meiden. Der Ort, an dem Charakter, genauer: die Handlung eines Charakters dargestellt wird, ist die Tragödie. Deshalb beschäftigt sich Aristoteles in der Poetik (Kap. 6) damit: „Charakter aber zeigt sich in den Aspekten <einer dramatischen Handlung>, aus denen erkennbar wird, welche Entscheidungen jemand zu treffen pflegt. – Deshalb zeigen die Reden keinen Charakter, in denen überhaupt nichts vorkommt, was der, der spricht, vorzieht oder meidet.“ (Übers. Arbogast Schmitt) Die konkrete Handlung einer Person entwickelt sich weiter, aber die Handlungstendenz des Charakters bleibt in sich konsistent. Die Handlungstendenzen sind dabei das den einzelnen Handlungen eines Individuums zugrunde liegende Allgemeine. In diesem Sinne ist auch der Hinweis des Aristoteles zu verstehen, dass die Dichtung eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung etwas Einzelnes darstelle: „ ‚Etwas Allgemeines‘ aber meint, dass es einem bestimmten Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukommt, Bestimmtes zu sagen oder zu tun. Dieses <Allgemeine des Charakters> versucht die Dichtung darzustellen, die <einzelnen> Namen werden dazugesetzt; ‚Einzelnes‘ meint: das, was Alkibiades getan und was er erlitten hat.“ (Poetik Kap. 9, Übers. Arbogast Schmitt). Das Allgemeine der Dichtung ist also nicht ein abstrakt allgemeiner Typus, z.B. typische Tyrannen, Könige oder Ehefrauen.

Schauen wir uns das an einem Beispiel an, zuvor aber ein Hinweis zur Bedeutung der Beispiele für unser Thema: Das Sprechen über Strebeformen und ihr Verhältnis zueinander ist im Bereich des Allgemeinen; der Art nach gibt es diese Strebungen bei jedem Menschen. In ihrer Konkretisierung sind es aber jeweils die Begierden, Affekte und Gedanken eines Einzelnen, eines Individuums. Jedes Individuum ist immer schon auf den Austausch mit anderen Individuen hin angelegt, die ebenfalls Begierden, Affekte und Gedanken haben. Die Diskussion von Beispielen zeigt in diesem Zusammenhang, dass wir hier nicht über allgemeine Typen sprechen (Typus des Politikers, Typus des Philosophen, …), sondern über individuelle Menschen in ihrem lebensweltlichen Kontext und im Austausch mit ihren Mitmenschen. Wir folgen der Anregung von Aristoteles und betrachten den Alkibiades – in seiner Darstellung bei Platon im Alibiades I und im Symposion.

Im Dialog Alibiades I tritt Alkibiades im Alter von ca. 20 Jahren auf (ca. 430 v. Chr.). Sokrates schildert ihn als einen jungen Mann von hinreißender körperlicher Schönheit, reich an Eigentum, von adliger Herkunft und mit dem bedeutendsten Staatsmann Athens als Vormund. Seine Seele strebt nach dem Besseren – weshalb Sokrates ihm nachgeht –, er ist philosophisch interessiert und hoch begabt (Strebevermögen des Denkens), er hat unbändigen/ungebändigten Ehrgeiz und Machtstreben und ist Anfällig für die Ehrerbietungen der Athener (Strebevermögen des Eifers). Aber: Ohne Tugend/Tauglichkeit ist er unvermögend. Im Laufe des Dialogs entwickelt er sich von einem selbstsicheren, an Selbstüberschätzung leidenden zu einem über die Erfahrung der Aporie unwilligen und schließlich zu einem einsichtigen Gesprächspartner. Er ist einsichtig in die eigene Bedürftigkeit (Strebevermögen des Denkens) verbunden mit dem Wunsch, Sokrates überall zu folgen (Eifer); insbesondere möchte er dem Rat folgen, sich erst um sich selbst zu kümmern, bevor er in die Politik geht. Im Symposion tritt er als reifer Mann auf (416 v. Chr.), Athen ist im Krieg mit Sparta. Alkibiades ist auf dem Höhepunkt seiner Macht, betreibt die Abkehr vom Nikiasfrieden und die Sizilianische Expedition, die – sofern sie erfolgreich gewesen wäre – die Macht Athens und die von Alkibiades potenziert hätte. Alkibiades folgt hier ganz seinem Machtstreben. Dieser mächtigste Mann Athens tritt im Symposion auf, er ist ungeladen, verspätet, stark betrunken, mit Gefolge und wie der Gott Dionysos mit Efeu bekränzt. Er hält eine Lobrede auf Sokrates und schildert – neben kompromittierenden Details – insbesondere die Wirkung, die Sokrates mit seinen Reden auf ihn hatte und hat: Er berichtet von heftigen Affekten, den Eingeständnis des eigenen Mangels und der Selbsterkenntnis über seinen knechtischen Zustand, den Wunsch, nicht zu bleiben wir er war. Er berichtet aber auch, wie die Ehrbezeugungen der Athener ihn überwunden haben und wieder überwinden werden.

Was wir im Zusammenhang mit den Einzeltugenden skizziert haben, bildet den Rahmen zur Interpretation der Handlungstendenzen von Alkibiades. Wir haben die Einsicht und den Eifer des jungen Mannes am Ende des Alkibiades I gesehen. Es ist ihm nicht gelungen, angesichts seiner Ehrsucht und der Ehrbezeugung der Athener an der als richtig erkannten Meinung festzuhalten und sich zunächst um seine Tauglichkeit zu bemühen (Tapferkeit). Er war nicht „stärker als er selbst“, ist überwunden worden von seiner Ehrsucht und den Ehrerbietungen der Athener (Besonnenheit), und er hat es versäumt, seine individuellen Begabung in der von ihm für richtig erkannten Weise zu entwickeln und damit „das Seine zu tun“ (Gerechtigkeit). Die Scham des Alkibiades kommt daher, dass er den Anspruch im Gespräch mit Sokrates als für sich richtig erkennt – aber nicht danach handelt. Die Handlungstendenzen des Alkibiades sind über die beiden Texte hinweg konsistent, Alkibiades ist in Aristoteles‘ Sinne ein Charakter und er ist zweifellos ein Individuum, Alkibiades ist so wenig ein allgemeiner Typus wie Achill, Ödipus oder Medea.

Im vergangenen Jahr sind wir anhand des Alkibiades I dem Gedanken der Selbstsorge von ihrem lebensweltlichen Kontext über die Seele als Ursache hin zum Prinzip gefolgt. In Hinblick auf die philosophische Begründung der Individualität lässt sich nun folgendes denken: Individualität ist eine Ausprägung des Mensch-Seins. Im Sinne der Aristotelischen Unterscheidung von Form und Materie hat sie ihren Ort im Bereich der Form (Hinweis: Individualität des Menschen erschöpft sich nicht in materiell bedingter Vereinzelung – setzt diese aber voraus). Diese Form ist bei Aristoteles primär die im Einzelding verwirklichte Form. Den Reichtum dieser Form auch bei Aristoteles haben wir angedeutet. In Hinblick auf Individualität als intensive Ausformung des Mensch-Seins scheint diese aus der Überfülle der Seinsmöglichkeiten der Platonisch gedachten Idee zumindest besser begründbar: Die Form des Menschen ist gegenüber den intensiven Arten ihrer Verwirklichung nicht gleichgültig oder abstrakt; sie enthält die intensive Ausprägung als eine Seinsmöglichkeit. Gegen den modernen Einredner (Dieses Prinzip hat mit mir nichts zu tun. Und für das vom Prinzip bestimmte Selbst gilt: Ich bin das nicht, dieses Selbst ist nicht individuell, vgl. Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum.) lässt sich argumentieren: Es betrifft mich nicht weniger als den Alkibiades, das in der Seele verortete Selbst ist individuell, und die von Platon und Aristoteles ausgehende Reflexion kann die Individualität auch philosophisch begründen.

Literaturempfehlungen:

Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin 2011 (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung Bd. 5)

Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt. München 2000 (Beck’sche Reihe 1381)

Arbogast Schmitt: Individualität in der Antike – von Homer bis Aristoteles. In: Subjektivität im Kontext. Hg. Von Dietrich Korsch und Jörg Dierken. Tübingen 2004, S. 1-27