Johannes Brahms hat im Jahre 1889 sein 35 Jahre zuvor entstandenes Trio H-Dur für Violine, Cello und Klavier bearbeitet und neu herausgegeben. Im Scherz spielte er mit dem Gedanken, es sein Op. 108 zu nennen, aber er behielt die frühe Opuszahl bei und bekannte sich damit zu seinem Frühwerk – auch wenn er ein neues Stück daraus machte. Das gilt insbesondere für dessen ersten Satz, der alleiniger Gegenstand des Vortrags war.

Zur Einführung war über den bemerkenswerten biographischen Hintergrund des Op. 8 zu sprechen. Die durch die überschwängliche Empfehlung Robert Schumanns früh erlangte öffentliche Aufmerksamkeit, die erst kurz währende intensive Freundschaft mit dem Ehepaar Schumann, die durch den Selbstmordversuch Robert Schumanns eine tragische Wendung nahm – all dies gehört in die unmittelbare Entstehungszeit des Trios Op. 8; nicht zuletzt das aus literarischen Erfahrungen (E. Th. Hoffmann) und romantisch-expressivem Schaffensdrang zustande gekommene Selbstbild des jungen Komponisten, das ihn die im Januar 1854 vollendete Komposition mit „Kreisler junior“ unterzeichnen ließ.

Eine Analyse des Stücks war unter drei Gesichtspunkten zu leisten. Es waren zu untersuchen:

  1. der beiden Fassungen gemeinsame erste Teil der Exposition

  2. die Fassung von 1854

  3. die Fassung von 1889, von der aus sich ein paar abschließende Vergleiche ziehen ließen.

Zu 1.: Die über 62 Takte sich ausdehnende Exposition des ersten Themas entfaltet sich aus einem einzigen melodischen Kern. Es wird daraus eine weitgespannte, das Prinzip der Steigerung stets aufs Neue ausspielende Entwicklung, von dem ersten Nacheinander Einsetzen der Instrumente bis hin zur expressiven Verdichtung im Schlussteil. Diese kommt durch eine für Brahms typischen Weise durch eine Verkürzung der Phrasen zustande: Ein nur mehr drei Töne umfassendes Motiv wird vom Zusammenhang abgespalten, durch dynamische Akzente hervorgehoben und mit einem Gegenmotiv kombiniert, das wir bei der Analyse der Zweitfassung seiner dortigen Funktion wegen „Brückenmotiv“ genannt haben (s.u.).

Zu 2.: Eine „Überbrückung“ (vom ersten zum zweiten Thema) findet in der Frühfassung des Stücks aber nicht statt. Eher eine unvermittelte Auflösung des Zusammenhangs: aus der letzten Steigerungs-welle des Hauptthemas führen ein par dünne Figurationen des Klaviers in stilistisch ganz unver-mittelter Weise in die neue Klangsphäre des Seitenthemas hinein.

Dieses besteht aus drei miteinander abwechselnden Episoden: dem etwas altväterlich periodisch geordneten eigentlichen Thema (vom Klavier in oktavverstärktem Unisono vorgetragen, vom Tutti als Kanon wiederholt), einem zweimal zitathaft erscheinenden Fugenthema (für das es biographische und werk-ideelle Bezüge gibt, aber keine unmittelbar wirkende musikalische Plausibilität) und schließlich eine liedchenhaft schlichte Melodie, die über einem Bordun-Bass hintereinander als zwei- bzw. dreistimmiger Kanon auftritt.

Die drei unterschiedlichen Gestalten dieses zweiten Themenkomplexes sind alle mit dem ersten Thema verwandt. Untereinander bilden sie aber keine überzeugende Einheit, und ihre emotionale Kraft fällt hinter die des ersten Themas weit zurück (die Zweitfassung des Stücks folgt dann einem gegenteiligen Konzept, s.u.).

Die Durchführung der Erstfassung wird weitgehend von diesem Themenkomplex (ohne Fugenthema) bestimmt. Die Reprise wiederholt dann die ersten 62 Takte des Stücks (die Entwicklung des Hauptthemas) ohne Veränderung. Der Anschluss an den zweiten Themenbereich, in der Exposition eine längere Überleitung, geschieht nun aber unvermittelt: mit dem überraschenden Eintritt des in der Exposition zitierten, in der Durchführung ausgesparten Fugenthemas, das sich hier nun zu einer regelrechten dreistimmigen Fuge mit abschließender Engführung auswächst. Es ist eine der interessantesten Ideen in diesem Stück: Brahms lässt die Reprise einlösen, was die Exposition mit dem Zitat eines Fugenthemas nur versprochen hat.

Die beiden anderen Gestalten der zweiten Themengruppe (sie haben in der Durchführung die Hauptrolle gespielt, s.o.) kommen in der Reprise – und auch im Schlussteil - dagegen nicht mehr vor: der junge Komponist geht mit seinen musikalischen Ideen sehr großzügig um!

In der umfangreichen Coda kommt dann noch einmal ausschließlich das erste Thema zum Zuge, das hier in sehr ausladender Form den mit einer Aufführungsdauer von ca. 18 Minuten ungewöhnlich langen Satz beschließt

Zu 3.:

Das Ausmaß der Änderungen, die der 35 Jahre älter gewordene Brahms an seinem Op. 8 vornahm, ist bei dessen erstem Satz am größten. Sein „herrlicher“ Anfang (Clara Schumann) blieb allerdings bestehen. Er erfuhr nur die geringfügige Änderung, dass Brahms den ursprünglichen Ansatz, die Violinstimme als Gegenstimme zur Cellostimme einzuführen, zugunsten einer geradlinigeren Formanlage verwarf. Ab der – immerhin 62 Takte langen – Exposition des ersten Themas ist der Satz dann ein neues Stück.

Das Neue beginnt mit einer Umwandlung eines Details: Das vom jungen Komponisten als Gegenfigur zur komprimierten Schlussformel des ersten Themas eingeführte sechstönige Motiv, das im weiteren Verlauf des Satzes keine Rolle mehr spielt, wird beim älteren Meister zum wichtigsten Agens des Stücks neben den beiden Hauptthemen. Dank melodischer Aufwärtstendenz und punktierter Rhythmik ist es zu kraftvollen Entwicklungen fähig. Es verhindert den Spannungsabfall, der an dieser Stelle im Frühwerk zu konstatieren war und leistet ohne Stilbruch die Brückenverbindung zwischen erstem und zweitem Thema (daher „Brückenmotiv“)

Zum zweiten Thema ( das hier nur unzureichend beschrieben werden kann): Das Klavier beginnt mit einer in einfachen Vierteln ab- und wieder aufsteigenden Akkordbrechung, in den nächsten beiden Takten beantwortet von einer rhythmisch sehr viel komplexeren Figur. Nach einer steigernden Wiederholung dieses Wechselspiels wird dann die rhythmische Komplexität der zweiten Taktgruppe in ein Spiel melodischer Linien umgesetzt, das sich in der Folge raumgreifend und in dynamischer Steigerung entfaltet. Ziel dieser Entwicklung ist eine Kantilene in hoher Tonlage, die Geige und Cello im Oktavabstand gemeinsam spielen: eine Apotheose des Zusammenspiels und ein Moment, dessen Emphase auch den von der Entwicklung des ersten Themas erreichten Höhepunkt noch übertrifft.

Hier liegt ein Vergleich mit der Erstfassung des Stücks nahe: Während das 2. Thema in der Erstfassung aus mehreren Episoden bestand, ist das der Zweitfassung aus einem Guss - und übrigens nur halb so lang wie dasjenige der Erstfassung. Einheitlich ist vor allem seine mitreißende emotionale Entwicklung. Sie macht es dem 1. Themenkomplex ähnlicher, als die thematischen Anklänge, die der junge Brahms gesucht hat. Die Entwicklung des 2. Themas ist in der Zweitfassung kürzer und steiler als die der ersten Themengruppe, insofern erleben wir in dieser Exposition zugleich eine Raffung und Steigerung der Mittel und nehmen die Exposition als Einheit wahr.

Bezüglich des zweiten Themas verraten auch die Durchführungen der beiden Fassungen ganz unterschiedliche Konzepte: Während der junge Komponist mit dem Hauptthema der zweiten Themengruppe fast die ganze Durchführung bestreitet – und es dann für den weiteren Verlauf des Stückes fallen lässt (in der Reprise wird die zweite Themengruppe durch die Fuge vertreten– ein sehr unkonventionelles Verfahren), fehlt das zweite Thema in der Durchführung der Spätfassung ganz. Der ältere Meister wollte es offensichtlich nicht zu früh „verbrauchen“: es spielt in der Reprise und in der Coda dann ja wieder eine große Rolle.

Die Reprise brachte in der Frühfassung die Wiederholung der ersten 62 Takte. Die Zweitfassung hingegen lässt das Thema mit immer deutlicher werdenden Konturen aus dem Kontext hervorgehen, der Akt des „Wiedererkennens“ wird auskomponiert. Was das Seitenthema angeht, so bewegt sich der ältere Komponist ganz in den Bahnen der Tradition: Er praktiziert einen Rollentausch der Instrumente und er setzt das ursprünglich in der parallelen Molltonart gis stehende Thema in die gleichnamige Molltonart h, eine Gelegenheit, die er nutzt, um den Klangsatz weiter nach oben zu rücken und die Brillanz z.B. der Violinkantilene noch einmal zu erhöhen.

In beiden Fassungen schließt sich eine Coda an, in der Frühfassung mit der Tempobezeichnung „schnell“ überschrieben, in der späteren mit „Tranquillo“. - ein Gegensatz, in dem sich das „jung“ und „alt“ auf seine Weise spiegelt. Im ersten Fall ein aufwendiger, sehr extrovertierter Schlussteil, in dem das Hauptthema gedreht und gewendet wird wie in einer zweiten Durchführung. Im zweiten Fall ein zurückblickender, zusammenfassender, ganz auf die gemeinsame Substanz der Themen konzentrierter Schluss: Das Violoncello intoniert noch einmal die erste Phrase des auptthemas Hauptthemas – die Violine antwortet mit einem Einsatz in umgekehrter Bewegungsrichtung. Daraus entwickelt sich über mehrere Takte ein Aufeinanderzuspielen der beiden Streicher.

Es überrascht dann nicht, dass ohne besondere Vorbereitung auch der Anfang des zweiten Themas noch einmal wiederkehrt: Aus einer absteigenden und einer aufsteigenden Phrase bestehend fügt sich sein ruhiger Gang in die auf das melodische Grundmuster des Auf und Ab zurückgeführten Phrasen des Hauptthemas ein. Die Entsprechung ist vollkommen, denn auch hier führen die Instrumente ihre melodischen Bögen im Dialog aus: absteigend das Klavier, aufsteigend die Beantwortung in der Violine, absteigend noch einmal das Klavier, die aufsteigende Antwort danach vom Violoncello kommend.

Dann vermischen sich über ein paar Takte die auf- und absteigenden Phrasen, mögen sie nun letztlich vom ersten oder vom zweiten Thema abstammen, zu einem einheitlichen Klanggewebe. In den letzten 7 Takten löst sich schließlich der thematische Bezug ganz auf: Diese leicht nach oben – bzw. nach unten! weggezogenen Schlenker, die die letzten sieben Takte bestimmen, könnten von Johann Strauß stammen, den Brahms seiner leichten Feder wegen ja beneidet hat. Sie sind jedenfalls sehr wienerisch und konnten dem jungen Hamburger Komponisten in Hannover oder Düsseldorf noch nicht zur Verfügung stehen: Er hatte sein ehrgeizig angelegtes Werk noch mit einem großen Schlussspektakel gekrönt. Der alte Meister tut`s mit Heiterkeit – und das ist ja nun mal eine Fähigkeit, die ältere Leute den jungen voraus haben!