Die österreichische Autorin Christine Lavant (1915 - 1973) ist bekannt geworden als Lyrikerin, für ihr lyrisches Werk erhielt sie bedeutende Preise und Ehrungen. Ihre Gedichte wurden lange vorwiegend als Texte gelesen, in denen sich ein lyrisches Ich in unerhörter Radikalität und sprachlicher Originalität, aber auch in hermetischer Form mit metaphysisch-religiösen Fragen auseinandersetzt – diese Lesart hat als erster Thomas Bernhard mit seiner 1988 erschienenen Auswahl ihrer „Gedichte“ aufgebrochen. In seiner Auswahl sind vorwiegend Gedichte enthalten, in denen Motive wie das Fremdsein in der Welt, Einsamkeit, unerfüllte Sehnsucht nach Liebe, Verlassenheit, Verzweiflung und Todessehnsucht im Zentrum stehen. 2001 hat Thomas Kling uns eine sinnlich-erotische Lesart ihrer Gedichte nahelegt, die der Leserschaft in der „reaktionären Nachkriegszeit“ ferngelegen habe.

Als Prosaautorin ist sie von einem breiteren Lesepublikum erst noch zu entdecken. Ihre vor dem 2. Weltkrieg verfassten Prosatexte sind noch unveröffentlicht, ihre weiteren Prosatexte entstanden in den Jahren 1945 – 1951, danach hat sie wohl das Schreiben von Prosa eingestellt, vermutlich, weil sie erkannt hat, „dass man sich in Versen besser (ver)-bergen könne“. Ihre zu Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen sind seit Juli 2015 in dem 2. Band der Werkausgabe (Wallstein-Verlag Göttingen) wieder zugänglich.

Lavant wurde als 9. Kind einer armen Bergarbeiterfamilie geboren, war von Geburt an krank und konnte aus gesundheitlichen Gründen weder die schulische noch eine berufliche Ausbildung abschließen. Sie lebte bis zum Tod ihrer Eltern (1938) bei ihnen in der einzigen Stube der Familie, ihren Lebensunterhalt hat sie im Wesentlichen als Strickerin verdient. Gelesen hat sie von Kindheit an viel, zuerst Trivialliteratur, mit 17 Jahren dann Hamsun, später Dostojewski und Lagerlöf und 1945 Rilkes Gedichte: diese Autoren haben ihr intensive Leseerlebnisse ermöglicht und auch ihr Schreiben beeinflusst. Schon als Jugendliche begann sie, Gedichte und Prosatexte zu schreiben, vereinzelt wurden ihre Gedichte in Zeitschriften veröffentlich, vornehmlich ihre Ärzte haben sie gefördert und zum Schreiben ermuntert.

Viele ihrer Erzählungen enthalten autobiographische Bezüge. Um sich und ihre Familie zu schützen, nahm Christine Thonhauser, seit 1939 verheiratete Habernig, 1948 den Namen „Lavant“ als „Decknamen“ an, nach dem Fluss, der ihr Heimattal durchfließt.

„Das Wechselbälgchen“ wurde aus dem Nachlass erstmals 1998 veröffentlicht. Die textkritische Neuausgabe von Klaus Amann erschien 2013, wurde inzwischen wiederholt aufgelegt und fand eine breite positive Resonanz in den Feuilletons der großen Zeitungen.

Zentralfigur dieser Erzählung ist die Bauernmagd Wrga, die mit all ihrer Kraft und Liebe, aber letztlich vergeblich, versucht, ihr geistig behindertes uneheliches Kind Zitha vor dem fanatischen Vernichtungswillen des Knechtes Lenz, ihres späteren Ehemanns, zu bewahren. Dieser von seinem Aberglauben besessene Mann insistiert nämlich darauf, dass Zitha ein „Wechselbalg“ sei, ein Wrga untergeschobenes Kind, das sie durch verschiedene brutale Rituale wieder gegen ihr leibliches Kind austauschen solle. Er möchte keinesfalls für dieses Kind aufkommen, ja, es nicht einmal in einer Hausgemeinschaft dulden.

Den Stoff ihrer Erzählung, die in einem Dorf ihrer Heimatregion Kärnten im Grenzgebiet zu Slowenien angesiedelt ist, nimmt die Autorin aus der Volksüberlieferung, aus der österreichischen bzw. Kärntner Sozialgeschichte sowie aus ihrer Autobiographie. In ihrer Erzählung greift Lavant teilweise wörtlich Strukturelemente der „Sage vom Wechselbalg“ auf, auch Figurenkonstellationen und andere Strukturmerkmale aus Volksmärchen sowie Elemente der Passionsgeschichte Christi fließen in die Komposition der Erzählung ein. Soziale Tatbestände und Moral- und Rechtsvorstellungen, die für das ländliche Kärnten noch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen kennzeichnend sind, bestimmen das dörfliche Leben, die Außenseiterrolle des Kindes Zitha ist der Autorin vertraut.

Die Erzählung wird uns in fünf Abschnitten präsentiert, deren Abfolge im Hinblick auf das tragische Ende des „Wechselbälgchens“ an den Aufbau des klassischen Dramas erinnert; das ist sicher einer der Gründe für die Sogwirkung, die die Erzählung auf den Leser ausübt.

Lavant verleiht dem geistig behinderten Kind eine individuelle Identität und verdeutlicht ihre kritische Absicht in der Schilderung seines Lebens durch bittere Ironie, die in starken Kontrasten zwischen Figurenreden und Erzählerbericht über die sozialen Tatsachen zum Ausdruck kommt. Soziale Anerkennung und eine Identität in der Gesellschaft findet Zitha erst nach ihrem Tod, der wie ein tragischer Unglücksfall aussieht und durch den sie das Leben ihrer kleinen Schwester rettet.

Zentrales Thema und Anliegen der Autorin ist es, die tödliche Macht des Aberglaubens in einer ländlichen Gesellschaft zu entlarven sowie den repressiven Charakter einer vermeintlich christlichen Moral aufzuzeigen. Dies gelingt Lavant mit ihrer einzigartigen Erzähltechnik, in der sie immer wieder Erzählerbericht und Figurenperspektive ironisch überblendet. So zeigt sie die Befangenheit aller Figuren in den von ihrer Gesellschaft geprägten Vorstellungen in einer authentisch wirkenden Sprache auf: In den Figurenreden finden sich in Wortwahl, veralteten Formenbildungen sowie der Syntax Elemente, die dem Kärntner Dialekt entstammen bzw. an die Sprache der weniger gebildeten Bevölkerung erinnern. Wrga ist die Hauptfigur der Erzählung, der Leser ist bei ihrem Kampf auf ihrer Seite, denn er bekommt einen detaillierten Einblick in ihre Nöte und Ängste, ihre Erinnerungen an besonders leidvolle Stationen ihres Lebens und ihre letztlich unverbrüchliche Liebe zu ihrem behinderten Kind. Sie scheitert in ihrem Kampf gegen Lenz‘ Besessenheit, die sie weder rational noch emotional auch nur im Geringsten erschüttern kann.

Das zentrale Thema dieser Erzählung erinnert uns an Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“, in der der Protagonist Hauke Haien auch vergeblich gegen den Aberglauben in seiner Gesellschaft kämpft. Marieluise Fleißer hat in der Zwischenkriegszeit Unterlegenheit und Ohnmacht von Frauen in ihrer zeitgenössischen Gesellschaft zum Thema gemacht. Auch im Kontext dieser Thematik ist Lavants Erzählung meines Erachtens heute noch lesenswert.

In der abschließenden Diskussion wird die Frage erörtert, ob die Figur Lenz –wie sicherlich der Pfarrer - nach Zithas Tod sein Unrecht einsieht und seine Tat bereut, hier kam es zu keinem eindeutigen Ergebnis. Im Zusammenhang mit dem Hinweis auf Julian Pöslers Vorhaben, „Das Wechselbälgchen“ zu verfilmen, wurde die Frage aufgeworfen, ob und welche filmischen Mittel der Regisseur finden könne, um die Ironie des Textes zu spiegeln.