Unser Gedankengang geht der Frage nach: Was ist der Mensch (vgl. Alkibiades I, 129e10)? Im zugrundeliegenden Text stellt Sokrates in seiner Großrede heraus, dass es Alkibiades noch an vielem mangelt, bevor er sich um die politischen Angelegenheiten der Athener kümmern sollte. Dem, was jetzt zu tun sei, gehen Alkibiades und Sokrates in drei Anläufen nach. Die drei Anläufe sind jeweils durch eine Frage von Alkibiades gekennzeichnet:

1. 124b-127d beginnt mit Alkibiades‘ Frage, welcher Form der Sorge (epimeleia 124b7) es bedürfe, um ihn auf die Politik vorzubereiten. Das folgende Gespräch ist eine gemeinsame Beratung (koineboule 124c1), durch die die Beratenden besser werden wollen. Inhaltlich folgt eine dihairetische Bestimmung der politischen Kunst.

2. 127e-131a stellt Alkibiades fest, dass es schlecht um ihn (emauton 127d7) stehe, die Frage nach der Sorge wird präzisiert als die Frage, wie er sich um sich selbst (epimeleiaheautou 127e1) sorgen solle. Wieder beraten die Gesprächspartner gemeinsam: Das Selbst verweist auf den delphischen Spruch („Erkenne dich selbst“). Aber was ist dieses „Selbst“? Drei Kandidaten werden erwogen: a) Der Leib (129e7) und das zum Leib Gehörige, das Eigentum (131b13) – dieses sei weit weg vom Selbst (131b13); b) das „Beide zusammen“ aus Leib und Seele (130b) und c) die Seele (130c3). Anhand des Kriteriums der Unterscheidung von Gebrauchendem/Gebrauchtem bzw. der Frage nach dem Herrschenden (vgl. Phaidon 98c-99a) kommen die Gesprächspartner zu dem Zwischenergebnis: Die Seele ist das Selbst (130c3). Sogleich schränken sie die Gültigkeit des Erreichten aber ein, weil diese Erkenntnis noch nicht genau genug ist. Die Seele ist nicht das Selbst selbst, sondern nur jedes Selbst (hekaston 130d4), d.h. die Seele ist das einzelne Selbst, aber „Seele“ gibt noch nicht an, was das ist.

3. 132b-133d fragt Alkibiades nach einer Klärung, wie Sorge um uns selbst geht, wenn diese als Sorge um die Seele zu verstehen ist (132b5). Die Antwort erfolgt über das Augengleichnis: Im Spiegel sieht das Auge mit der Pupille – so der Gedanke – die Sehkraft (opsis); die Sehkraft ist die Bestheit (arete) des Auges (133b4-5). Analog müsse auch die Seele, wenn sie sich selbst erkennen wolle, auf den Teil schauen, dem ihre Bestheit innewohnt: die Weisheit (133b9-10), die dem Göttlichen gleicht (133c4). Wer auf das Göttliche schaut, der würde demnach auch sich selbst am besten erkennen.

Das heißt nicht: Gott ist das Selbst oder der Mensch ist Gott, diese Interpretation ginge an der intendierten Sache völlig vorbei, sondern: für die Selbsterkenntnis, soweit sie Menschen möglich sein mag, schaut man am besten auf Gott. Wenn man bei diesem Gott an die Idee des Guten denkt, dürfte das in die richtige Richtung gehen. Sokrates und Alkibiades haben drei Anläufe zur Klärung dessen unternommen, was zu tun ist: Der erste bewegt sich im Bereich der Besorgung des Weltlichen (politische Kunst), der zweite hebt die Diskussion auf die Ebene der Ursache (Seele), der dritte Anlauf geht zum Prinzip (Gott). Einerseits zeigt der Dialog einen Grundzug Platonischen Philosophierens: Der Gedankengang des Dialogs beginnt bei der konkreten Absicht des jungen Alkibiades, in die Politik zu gehen (105a-106a), und führt von dort zu dem Prinzip, von dem her die Richtigkeit der Handlung zu beurteilen wäre. Andererseits führt der Gedankengang zu einem Punkt, an dem der moderne Einredner mit seiner Kritik ansetzt: Dieses Prinzip hat mit mir nichts zu tun. Und für das vom Prinzip bestimmte Selbst gilt: Ich bin das nicht, dieses Selbst ist nicht individuell.