1. Einführung
2. Der Jom Kippur in der Zeit des Zweiten Tempels und seine Darstellung in der Mischna (Traktat Joma)
Am einschlägigen Text des Ersten Testaments, Lev 16 wurde dargestellt, dass am Jom Kippur zwei liturgische Elemente eine wichtige Rolle spielen: 1. Die Handauflegung/stemmung; 2. Die Blutapplikation. Sigrid Brand hat jedoch darauf hingewiesen, dass Lev 1,4 zufolge die Handauflegung nicht ein Identifikationsritus des Opfernden mit dem Opfertier ist (als würde das Tier stellvertretend für den Opfernden sterben), vielmehr soll durch das Brandopfer von Gott her Sühne geschaffen werden. Die Handauflegung stellt eine symbolische Einsetzungs- und Bitthandlung dar. Bezüglich ‚Blut‘ heißt es in Lev 17,11: „[…] denn das Blut ist es, das durch das Leben sühnt“. Die Sühne entspricht Brand zufolge einem uralten Verlangen „zur Schaffung neuer Verhältnisse und neuer Lebensmöglichkeiten“.

In der Mischna (um 200 n. Chr.), Traktat Joma, findet sich eine genaue Beschreibung des Ablaufs der Liturgie am Jom Kippur. Dort wird auch unterschieden, dass die Sünden gegen Gott am Jom Kippur vergeben werden, während die Sünden gegen den Mitmenschen durch Versöhnung untereinander in den Tagen zwischen Neujahr und Jom Kippur aus der Welt geschafft werden.

3. Der jüdische Opferkult nach der Zerstörung des Zweiten Tempels – Bemerkungen zur Forschungslage
Bereits die Propheten haben gegen das Opferwesen Bedenken geäußert und davor gewarnt, daraus einen Mechanismus im Umgang mit Gott werden zu lassen. (Vgl. Hos 6,6; Jes 43,22-24 u.a.) Vgl. Guy G. Stroumsa, Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen  der Spätantike. Berlin 2011. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. wurden beide Religionen, Judentum und Christentum, Religionen ohne Tieropfer. Der Opfergedanke erhielt – in verschiedener Intensität – eine anthropologische Transformation.

4. Die frühe Deutung des Todes Jesu bei Paulus (Röm 3,21-25) im Widerstreit
„ 21 Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden, bezeugt vom Gesetz und von den Propheten: 22 die Gerechtigkeit Gottes aus dem Glauben an Jesus Christus, offenbart für alle, die glauben. Denn es gibt keinen Unterschied: 23 Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. 24 Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus. 25 Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne, wirksam durch Glauben. So erweist Gott seine Gerechtigkeit durch die Vergebung der Sünden, die früher, in der Zeit seiner Geduld, begangen wurden; 26 er erweist seine Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit, um zu zeigen, dass er gerecht ist und den gerecht macht, der an Jesus glaubt.“
Nach überwiegender Mehrzahl der Bibelwissenschaftler bezieht sich Paulus auf den Jom Kippur, und zwar auf jene Stelle, an der der Hohepriester mit dem Blut des Opfertieres das Allerheiligste des Tempels betrat, um ‚Sühne‘ und Vergebung zu erbitten. Jesus erbringt durch seinen Tod diese Sühne, er wird gleichsam zum ‚Sühneort‘.

5. Der Hebräerbrief als erste ausgearbeitete Theologie des Jom Kippur im Neuen Testament nach der Zerstörung des Zweiten Tempels
Der Hebräerbrief ist insofern die erste christliche Theologie des Jom Kippur, als er den Tod Jesu als Eintritt in das Allerheiligste eines nicht aus Händen gebauten Heiligtums deutet. (Vgl. Hebr 9,11-14.24-26)

6. Eucharistie und Jom Kippur
Der literarisch älteste Text im Neuen Testament über die Eucharistie findet sich bei Paulus: 23 Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, 24 sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! 25 Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! 26 Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. (1 Kor 11,23-26)

Das Wort ‚Blut‘ bindet die Stelle an der späteren Stelle Röm 3,25 zusammen. Hebr betont, dass Jesus nicht mit fremdem Blut, sondern mit seinem eigenen Blut in das Allerheiligste eingetreten sei.

7. Abschließende kurze Zusammenfassung
1. Nehmen wir mit der Mehrzahl der Forschenden an, dass Röm 3,25 den Hebräerbrief vorbereitet, so heißt dies nicht, dass der Kreuzestod Jesu in der Eucharistie in der liturgischen Gestalt des Jom Kippur gefeiert wurde. Tempel, Tieropfer, und Eintritt des Hohenpriesters ins Allerheiligste mit der Blutapplikation an der Deckplatte der Bundeslade (hebr. Kapporeth, griech. Hilasterion) werden zur großen Metaphorik, in der sich Jesu Tod und seine Sünden vergebende Wirkung auslegen lässt.
2. Die Umschreibung des Todes Jesu durch den Terminus ‚Blut‘ behält dabei ihre Ungeheuerlichkeit, und zwar unabhängig davon, ob dieser Tod ausschließlich in Analogie zum Eintritt des Hohenpriesters in das Allerheiligste oder auch zum „Sterben-für“ im hellenistischen Sinn verstanden wird. Blut fließt in jedem Fall und wird zur Metapher der Wiederherstellung der Gemeinschaft von Gott und Menschheit nach dem Sündenfall und unter der Bedingung des Todes. Wird der Tod Jesu in der Eucharistie gegeben, gilt dennoch, dass in der Feier der Eucharistie keinerlei Blut mehr fließt.
3. Mit dem Versuch, hier theologische Klarheit zu schaffen, hängt also die gesamte christologische Frage zusammen. Wenn die Idee „Ein Gott-Mensch“, von der nicht nur das Konzil von Chalkedon handelt, sondern auch Emmanuel Levinas aus jüdischer und philosophischer Perspektive gesprochen hat, eine Bedeutung für heutige Eucharistietheologie erhalten soll, dann gilt es Folgendes zu bedenken: Wenn das Opferwesen bereits zur Zeit des Zweiten Tempels von den Propheten Israels kritisiert und später durch hellenistischen Einfluss „spiritualisiert“ worden ist, dann bedeutet dies, dass die ‚humanisierende, ethische Transformation des Opfers den Opferbegriff nicht abgeschafft, sondern radikalisiert hat. Wenn also an die Stelle der Tieropfer die Lebenshingabe der Menschen, sei es im Martyrium, sei es im Einsatz für den Frieden, sei es in äußerstem Einsatz durch das eigene Leben zugunsten des Lebens anderer tritt, dann erhält das Wort ‚Opfer‘ einen neuen Sinn. Deshalb ist die These von der kultischen Interpretation des Todes Jesu nicht so zu verstehen, als sei er mit dem einstigen Tieropfer gleichzusetzen oder als habe das Ende der Tieropfer im Tempel von Jerusalem die Verwendung des Wortes ‚Opfer‘ unmöglich gemacht. Der Rückbezug auf die Theologie des Jom Kippur macht es vielmehr möglich, die prophetische Dimension der Opferkritik mit dem radikalen Verständnis der Lebenshingabe Jesu zu verbinden. Die göttliche Dimension der Versöhnung durch seinen Tod besteht darin, dass im ‚Sterben-für‘ Jesu der Zuspruch der Versöhnung durch Gott geschenkweise (griech. dorean) geschieht und die Feindschaft des sündigen Menschen von Gott her beendet und der Friede zwischen Gott und Mensch hergestellt wird. Der Gott, der bedingungslos Versöhnung durch Rechtfertigung des Sünders schenkt, ist ein Gott, der seine Allmacht am meisten im Vergeben zeigt, so dass die Eucharistie als Mysterium der Vergebung und Versöhnung gefeiert werden darf. Sprachlicher Ausdruck dafür ist neben den Wörtern ‚Blut‘ und ‚Bund‘ vor allem der Zusatz des Kelchwortes bei Matthäus: „zur Vergebung der Sünden“. Der markinische Zusatz „für viele“ hat von Jes 53,11 [und Röm 5,15] universale Bedeutung („die Vielen“ = „alle“). Die Vergebung unserer Sünden geschieht kraft des Todes Jesu als des Gott-Menschen und wird in der Eucharistie zur sakramentalen Selbstgabe für uns. Viele frühkirchliche Eucharistiegebete haben den Zusatz des Matthäus auch dem Brotwort hinzugefügt: „Das ist mein Leib zur Vergebung der Sünden“.

4. Sollte Röm 3,25 maßgeblich dazu beigetragen haben, dass der Hebräerbrief die Verbindungslinien zum Jom Kippur so intensiv ausgezogen hat, wie es sich in heutiger Lektüre aus besserer Kenntnis der historischen Zusammenhänge geradezu aufdrängt, dann wäre die Lebenshingabe Jesu die Basis für die theologische Auslegung der ewigen Bedeutung seines Todes, die durch den Rückbezug auf den Sinaibund und auf den Neuen Bund über die Tradition des Jom Kippur hinaus noch zusätzliches Gewicht bekäme. Jer 31,31ff. spricht nicht vom Opfer und kennt das Opfer auch nicht als Voraussetzung oder Bestätigung des verheißenen neuen Bundes, wohl aber spricht der Prophet Jeremia von der Sündenvergebung. Wenn aber Helmut Merklein zufolge in den Abendmahlsworten Jesus selbst einen Bezug zu Jes 53 hergestellt hat, dann gehört die Sühneaussage zur Authentizität der Eucharistietradition auch dann, wenn dafür kein historisch absolut gesicherter Bezug zum Jom Kippur aufgewiesen werden könnte. Das Referat trat dafür ein, dass dieser Bezug viele gute Gründe hat. Gleichwohl steht dem nicht entgegen, dass die Transformation vom Tieropfer zur Lebenshingabe eines Menschen und bis zur Hingabe Jesu als des leidenden Gottesknechts nach Jes 53 ein theologischer Rahmen ist, auf den sich Judentum und Christentum nach der Zerstörung des Zweiten Tempels – wenn auch in verschiedener Weise – beziehen können.

5. Ohne eine Theologie des Todes Jesu, der seine Auferstehung einschließt, wäre die Feier der Eucharistie nur der Versuch, durch unsere geschichtlich bedingte Gedächtnisanstrengung, das einst Geschehene nicht zu vergessen. In der Eucharistie aber geht es um die göttliche Zuwendung der Versöhnung zwischen Gott und Mensch und der Menschen untereinander durch den Gott-Menschen und so letztlich um die Gabe einer versöhnbaren Schöpfung. So gilt: Den Tod des Herrn verkünden wir als Mysterium der Versöhnung und seine Auferstehung preisen wir, bis er kommt.