Zur Vorbereitung waren die zweisprachigen Ausgaben von Dieter Kartschoke (Berlin 21989) und Joachim Heinzle (Frankfurt a. M. 1991) empfohlen worden, sowie die Einführung von Kurt Ruh (Höfische Epik des deutschen Mittelalters, 2. Teil, Berlin 1980, S. 154 – 196). Heinzles Ausgabe enthält einen umfänglichen Kommentar. Joachim Bumke hat sein Buch Wolfram von Eschenbach in der Sammlung Metzler seit 1964 ständig erweitert. In der 8. Auflage von 2004 umfaßt seine Darstellung und die kritische Durchsicht der Literatur die Seiten 276 – 406. Die Textausgaben und die genannten Einführungen räumen die Barrieren beiseite, die für die Lektüre eines mittelhochdeutschen Romans zu befürchten sind.

Wir begannen unmittelbar mit dem Prolog des Willehalm. Wolfram bearbeitet im Auftrag des Landgrafen Hermann von Thüringen ein Kapitel aus der französischen Nationalgeschichte: die Chanson de geste Bataille d’Aliscans, die den siegreichen Kampf Wilhelms von Orange über die Sarazenen schildert. Indem Wolfram auf den Parzival anspielt (und seine Aufnahme beim Publikum), wird deutlich, daß er mit dem Willehalm etwas Neues vorhat, nicht nur einen neuen Roman, sondern eine neue Art von Roman in der deutschen Literatur seiner Zeit. Es geht nicht mehr darum, die Artuswelt und die Gralsgeschichte neu zu realisieren, Chrétien de Troyes zu folgen und mit Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg zu konkurrieren, er muß vielmehr einen geschichtlichen Stoff bewältigen, der einen anderen Wahrheitsanspruch erhebt und ihn in anderer Weise verpflichtet als die Stoffe des höfischen Romans.

Nacherzählung: Lektüre ausgewählter Stellen (mittelhochdeutsch und neuhochdeutsch) und Interpretation folgten dem Gang des Romans: Erste Schlacht von Alischanz und Vernichtung des christlichen Heers (Bücher I & II) Willehalm entkommt, ertrotzt und erkämpft sich die Hilfe seiner Sippe und ein Reichsheer von König Ludwig (III & IV); Giburg, seine Frau, verteidigt unterdessen Orange gegen ihre eigene Sippe und das Invasionsheer (V & VI); Zweite Schlacht von Alischanz, Niederlage und Abzug der Invasoren (VII & IX). Neben den Hauptakteuren beider Parteien wurden die Protagonisten beider Schlachten, Vîvîans und Rennewart, ausführlicher behandelt. (Wie wird eine Figur zu einem Charakter?) Ferner Ausführungen zur epischen Technik Wolframs — wie stellt er das bewegte, wechselnde Schlachtgeschehen dar? — und zu den komisch bizarren Einsprengseln und dem comic relief.

Im Fortgang der Interpretation wurde der Unterschied zum höfischen Roman gezeigt und wie Wolfram seinen Auftrag erfüllt. Das Heldenepos aus dem Zyklus um Wilhelm von Orange ist auf die Vorgänge und die Überwindung der feindlichen Sarazenen konzentriert. Wolfram reflektiert das Geschehen. Er durchsetzt es mit Einwürfen, Überlegungen und Kommentaren des epischen Erzählers. Das Geschehen und das Handeln der Personen werden ihm zum Problem. Er fragt — durch die Art und Weise, wie er erzählt — nach dem Sinn der vorgegebenen historischen Vorgänge. Von größter Bedeutung ist dabei der Anfang des Prologs, mit dem wir unmittelbar begonnen haben (1,1 – 2,22). Die Anrufung es Dreieinen [dû drî unt doch einer], des Schöpfers [schepfaere über alle geschaft] und Erlösers [dîn kint und dîn künne / bin ich bescheidenlîche] gibt dem Roman den Horizont. In diesem Horizont werden die Liebe von Giburg und Willehalm, Treue und Treulosigkeit, Rittertum, Minne und Haß, Pracht und Verfall der Großen, Rachsucht und unbändige Wut, Freundestreue bis in den Untergang und das Gemetzel der Schlachten [diu mac vür wâr wol heizen mort 10,20], die Verteufelung des Feindes und gegenseitige Anerkennung, unterschieden und erfaßt. In diesem Horizont erscheinen beide Parteien, die heidnische und die christliche, miteinander. Beider Recht und Unrecht, Größe und Leid werden dargestellt und reflektiert. Giburgs Rede vor der zweiten Schlacht (306 – 310) wurde in Ausschnitten gelesen und eingehend besprochen. In der schlimmsten Verhärtung — sus râche wider râche wart gegeben (305,30) — vermag sie Christen und Sarazenen aus der unversöhnlichen Feindschaft zu lösen und als Gleiche zu sehen [gotes hantgetât 306, 28; 450, 19]. Ihre Sicht konkretisiert, jetzt am Abend vor der Schlacht, den Horizont, den der Prolog entworfen hat. Freilich vermag die Wahrheit ihrer Sicht die Schlacht nicht zu verhindern, aber eine Rechtfertigung der Schlacht und des Krieges (und sei’s um der Religion willen), ist unmöglich.

Wolfram hat das Epos nicht vollendet. Es endet in den vorliegenden Handschriften bedeutsam genug mit einer Szene gegenseitiger Anerkennung. Wir sehen Willehalm nach der Schlacht in Verhandlung mit dem vorbildlichen König Matribleiz von Gaheviez. Er löst ihn und seine Gefährten aus der Gefangenschaft, stellt ihm Leute und Muli zur Verfügung und bittet ihn (466,1), die toten heidnischen Könige in die Heimat zu überführen, damit sie dort nach ihrer eigenen Religion und Sitte würdig bestattet werden [dâ man si schône nâch ir ê / bestate (465,19)]. »Ich empfehle euch, König Matribleiz / dem, der die Menge der Sterne zählt / und uns das Licht des Mondes gab. / Ihm seid anempfohlen, / er bringe euch heim. / Ritterlicher Sinn wich nie aus eurem Herzen« (466,29 – 467,4).