Mit dem 11.10.2012 hat die Jubiläumszeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) begonnen, die Gelegenheit gibt, sich erneut mit diesem Konzil zu befassen und seine Texte genauer zu lesen. Die Erklärung über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) gehört zu den weichenstellenden Texten des Konzils. In einem ersten Punkt habe ich über die Entstehung des Textes gesprochen, der Mühe hatte, das Licht der Welt zu erblicken, so ungewöhnlich erschien, was beschlossen werden sollte. Dies konnte nicht ohne gehörige Kontroversen im Konzil abgehen. Als das Konzil am 12. Oktober 1962 begann, dauerte es ein ganzes Jahr, bis ein erster Textentwurf im Konzil ankam. Die Hauptfrage bestand darin, ob das Konzil aus der Kontinuität der kirchlichen Lehre nicht ausbreche und etwas Neues lehre, was mit dem bisherigen Lehramt nicht zu vertreten war. Am 17. Nov. 1964 wird eine dritte Fassung dem Konzil vorgelegt. Als am 19. Nov. 1964 für Verschiebung der Debatte plädiert wurde, und man stattdessen die Möglichkeit zu schriftlichen Eingaben bis zum 31. Januar 1965 vorschlug, kam es im Konzil zu einem heftigen Tumult. Zur Verabschiedung kam es buchstäblich in letzter Minute, d.h. in der letzten Sitzung des Konzils (7. Dez. 1965).
Die Erklärung über die Religionsfreiheit besteht aus zwei Teilen: Nach einer Einführung in Art. 1 über die Würde der menschlichen Person folgt I. Allgemeine Grundlegung der Religionsfreiheit (Art. 2-8) und II. Die Religionsfreiheit im Lichte der Offenbarung (Art. 9-14)

Art. 1: Das wachsende Bewusstsein von der Würde des Menschen und die Kirche
Die Würde der menschlichen Person ist das Grundargument der Erklärung. Die neuzeitlichen Entwicklungen sind ernst zu nehmen und neu zu interpretieren. Ohne Religionsfreiheit ist ein moderner Staat nicht mehr vorstellbar.
Art. 2: Bekenntnis zur Religionsfreiheit und ihre inhaltliche Bestimmung
Der vielleicht wichtigste Artikel der ganzen Erklärung. Das Subjekt des Rechts ist der Mensch selbst. Niemand darf gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln, aber auch nicht gehindert werden, gemäß seinem Gewissen zu denken und zu leben.
Art. 3: Das göttliche Gesetz und die Freiheit des Menschen
Die Bedeutung der Person in der Gottsuche wird nicht individualistisch enggeführt, sondern dialogisch eingebunden.
Art. 4: Die möglichen Subjekte der Religionsfreiheit und ihre Rechte
Die beanspruchte Freiheit der Kirche muss die Freiheit für alle Menschen sein.
Art. 5: Religionsfreiheit als Eigenrecht der Familie
Die Freiheitsrechte werden für die Familien eingefordert.
Art. 6: Staatliche Gewalt und Gemeinwohl
Der Begriff des Gemeinwohls (bonum commune) wird erläutert. Alle haben für die Rechte anderer einzustehen. Gemeinwohl und persönliche Vervollkommnung gehören zusammen und können leichter gemeinsam erreicht werden. Die staatliche Gewalt erhält für das Gemeinwohl eine besondere Bedeutung. Was bezüglich der Verabschiedung vom katholischen Staat inzwischen durchgeführt ist, harrt noch der Verwirklichung in anderen Bereichen (des Judentums in Israel und des Islam in vielen Ländern).
Art. 7: Einschränkung der Religionsfreiheit aus Sorge um das Gemeinwohl
Freiheit und sittliche Verantwortung bedingen sich gegenseitig.
Art. 8: Religionsfreiheit als Erziehungsauftrag
Art. 9: Religionsfreiheit und Offenbarung
Mit Artikel 9 setzt der zweite Teil ein. Es wird gezeigt, dass die bisherigen Ausführungen zwar nicht direkt aus den Offenbarungsquellen abgeleitet werden können, aber genügend Grundlagen bieten, um eine theologische Begründung der Religionsfreiheit zu versuchen. Fest steht, dass Jesus die Freiheit des Menschen, an Gottes Wort zu glauben, beachtet hat.
Art. 10: Freiheit des Glaubensaktes
Der Glaubensakt ist seiner Natur nach ein freier Akt. Die Befreiungs- und Erlösungserfahrung kann nur in einem vernunftgemäßen und freien Glauben (rationabile liberumque obsequium) angenommen werden.
Art. 11: Das Beispiel Jesu und der apostolischen Kirche
Auflistung ntl. Textbelege dafür, dass der Ruf Gottes im Gewissen verpflichtet, nicht aber dazu zwingt.
Art. 12: Kirchliches Zeugnis und Gegenzeugnis
Kleines Schuldbekenntnis: das kirchliche Handeln hat dem Geist des Evangeliums bisweilen nur „wenig entsprochen“, ja es war ihm sogar „entgegengesetzt“.
Art. 13: Die genuine Freiheit der Kirche
Ekklesiologische Konsequenzen. Die Kirche verlangt, um der Erfüllung ihrer Heilsaufgabe willen, auch ein entsprechendes Maß an Freiheit.
Art. 14: Religionsfreiheit und Mission der Kirche
Die Frage der Mission als Werben um die freie Glaubenszustimmung.
Art. 15: Schlussermahnung
Das Konzil kann nur appellieren. Wenn unter der zunehmenden Verflechtung der Kulturen und Religionen die Konflikte nicht zunehmen sollen, bedarf es der allgemeinen Religionsfreiheit. Sie muss persönlich und gemeinschaftlich realisiert werden.
Der letzte Satz des Dokuments lautet: „Wie sollte sonst der Hoffnung wider alle[r] Hoffnung angesichts der faktischen Realität Ausdruck verliehen werden?“ (196)
Es ist ungewöhnlich, dass der Text mit einer Frage endet. Das fordert die Diskussion heraus, von der reichlich Gebrauch gemacht wurde.