In meinem Vortrag über den amerikanischen Komponisten Louis Hardin (1916-1999) alias Moondog habe ich versucht, einen Überblick über sein Werk zu geben. Da Moondog – wenn überhaupt – nur als der blinde und exzentrische Straßenmusiker in Wikingerkleidung bekannt ist, lag mir daran, einen nüchternen Blick vor allem auf sein Werk zu richten. Nach einem kurzen biographischen Abriss, in dem die Spannung zwischen amerikanischer Herkunft und der Orientierung an traditionell europäischer Kultur zutage trat, wurde Moondogs kanonisches Kompositionsprinzip erläutert, das der überwiegenden Mehrzahl seiner Kompositionen zugrunde liegt. Mit den drei Erklärungsansätzen (metaphysisch, psychologisch, pragmatisch) für die Dominanz des Kanons konnten das Werk und die Person Moondogs genauer unter die Lupe genommen werden. Mit dem Kanon wollte Moondog einerseits seine neopythagoräische Weltanschauung, deren Grundaxiome die Obertonreihe und der daraus abgeleitete Dreiklang sind, zum Ausdruck bringen. Das ewige In-sich-Kreisen, die Dialektik zwischen Statik und Bewegung entspricht zudem Moondogs Geschichtsauffassung. Zum anderen hängt die fast manische Verwendung des Kanons mit dem bei amerikanischen Komponisten häufig zu beobachtenden Prozess der Identitätsfindung zusammen, der bei Moondog, dem aufgrund seiner Blindheit ein herkömmlicher musikalischer Ausbildungsweg versagt blieb, besonders verschärft zutage tritt. Der Kanon als Inbegriff europäischer Musik war dabei Orientierungspunkt. Die pragmatische Erklärung hängt ebenfalls mit Moondogs Blindheit zusammen: Mit dem Kanon ist es dem Autodidakten möglich, mit wenig technischem Aufwand die Illusion komplexer Mehrstimmigkeit zu erzeugen, wie sie ihm als Ideal vorschwebt. Der Kanon ist Moondogs musikalische Ursubstanz, die in vielfältigen traditionell europäischen Gewändern erscheint: Vom Madrigal über die klassische Sinfonie bis zur Zwölftonmusik findet sich alles in Moondogs Oeuvre, allerdings jeweils in origineller Anverwandlung. Einige Musikbeispiele sollten einen groben Einblick in die teils naive, teils schalkhafte Auseinandersetzung mit traditioneller europäischer Musik bieten.
Am Ende des Vortrags zeigte der Vergleich mit anderen amerikanischen Komponisten und ein Blick in die amerikanische Musikwissenschaft, dass sich Moondog durch seine charakteristischen Merkmale (Verwendung des Kanons, unbekümmerter Eklektizismus, autodidaktische Herangehensweise, Identitätsfindung in Nähe und Abgrenzung zum europäischen Erbe usw.) in eine lange Tradition amerikanischer Musik einfügt.