Zahlreich und äußerst fruchtbar sind die vielfältigen Versuche, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten unternommen worden sind, um die Kluft zwischen Theologie und Ästhetik, zwischen der Kunst und der religiösen Praxis zu thematisieren, zu untersuchen und zu überbrücken. Immer wieder zeigte sich eine grundsätzlich textorientierte Theologie an den Erkenntnispotentialen der bildenden Kunst interessiert, wie umgekehrt die Kunstgeschichte im methodischen Instrumentarium der Theologie Modelle fand, sich ihres Gegenstandes, einer radikal auf der Wirkmacht des Bildlichen insistierenden Kunst, zu versichern. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es insbesondere die Entwicklung der ungegenständlichen Malerei und Skulptur war, die diesen Prozess initiierte und über weite Strecken nachhaltig beförderte. In dem Maße, in dem sich die traditionelle Kunstgeschichte nicht mehr in der Lage sah, sich den neu entstehenden Kunstwerken mit Hilfe ihrer eingeübten Methoden zu nähern, mit dem Ende der Ikonographie, wie es der Kunsthistoriker Werner Busch formulierte, bestand die Notwendigkeit, neu über eine Kunst nachzudenken, die sich in bisher nicht gekannter Weise der Mimesis verweigerte, die eine von anderen Sinn- und Deutungssystemen autonome Daseinsberechtigung einforderte und die sich programmatisch dem zentralen Kommunikationsinstrument der Wissenschaften, der Sprache, widersetzte. Es ist nur auf den ersten Blick überraschend, dass es im Gefolge einer solchen Konstellation zu einer Koalition mit einer ausgesprochenen Textwissenschaft, der Theologie, kam. Auch die Theologie befasst sich mit Fragen der Versprachlichung des Numinosen und des Spirituellen. Der Aspekt des Spirituellen ist es denn auch, der weite Teile der Diskussion des Verhältnisses von Kunst und Theologie bestimmt. Er scheint zum tertium comparationis des Diskurses geworden zu sein. Zugleich schränkt Alex Stock in seinen Überlegungen zum Status der Bilder als eines möglichen locus theologicus jedoch ein: „In ihrer stillen Präsenz können Bilder nur an der Grenze der Theologie erscheinen, dort wo sie sich nicht selbst begründen und vollenden kann. In der theologischen Arbeit selbst können sie nur eine Rolle spielen, insofern sie an den sprachlichen Diskurs in irgend einer Weise anschließbar und in ihn übersetzbar sind." [Alex Stock: Ist die bildende Kunst ein locus theologicus?. In: ders.: Keine Kunst. Aspekte der Bildtheologie. Paderborn 1996, S. 132]
Es existieren einige Diskursfixpunkte, um die die Versuche der Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Theologie in der Moderne immer wieder kreisen: Auf theologischer Seite ist es die Frage nach dem Status des alttestamentlichen Bilderverbots, auf kunsthistorischer jene nach der Bedeutung der orthodoxen Ikonen für die Entwicklung und Deutung der frühen ungegenständlichen Malerei. Darüber hinaus erfuhr die Debatte im Rahmen der Rezeption des amerikanischen abstrakten Expressionismus der 40er / 50er Jahre des 20. Jahrhunderts nochmals eine Akzentuierung, da gerade die Selbstdeutungen von Künstlern wie Barnett Newman, Mark Rothko oder Ad Reinhardt dafür sorgten, dass ihre Kunst aus theologischer Sicht von besonderem Interesse wurde.
Der Vortrag hat diese beiden historischen Situationen in den Blick genommen. Einerseits, auf der Grundlage neuerer Forschungen, die Umstände der Ikonenrezeption in der russischen Avantgarde am Beispiel Kasimir Malewitschs und andererseits, in einer neuerlichen Befragung des Verhältnisses von Theorie und Bild, die Rezeption der amerikanischen abstrakten Expressionisten am Beispiel der Folge der „Stations of the Cross" Barnett Newmans.
In der Untersuchung dieser Gemälde und Gemäldefolgen zeigt sich beispielhaft das starke Interesse der Künstler an einer Selbstbefragung ihrer künstlerischen Möglichkeiten. Ihre Bilder zeigen ein ästhetisches Janusgesicht: Sie spielen auf ein religiöses Thema an, bearbeiten es in einem spezifischen Diskurs der Künste und transformieren es in eine Anschauungsform, die die zu Grunde liegende religiöse Erfahrung in einen Akt künstlerischer Selbstreflexion überführt. Dies ist eines der zentralen Probleme avancierter, zeitgenössischer Kunst, die sich mit Fragen und Erfahrungsmöglichkeiten des Religiösen befasst. Nach der Geschichte der Autonomie der Kunst, kann sie davon nicht mehr absehen. Das heißt, die Künstler untersuchen in ihren Werken in erster Linie die Strukturen und Wirkweisen von Kunst, losgelöst von spezifischen Inhalten. Sie fragen nach dem Status des Bildes und nach den Bedingungen visueller Erkenntnis. Wenn sich daraus auch Reflexionen über theologische Inhalte ergeben, die Kunst als locus theologicus bestimmt werden kann, so ist das im Rahmen des Autonomiekonzeptes der Moderne zwar nicht intendiert, aber die Kunst muss sich der Tatsache bewusst sein, dass sie ihre Inhalte mit einem solchen Autonomiekonzept in einer bestimmten Weise auch in den Markt der Sinnstiftungen einspeist und sich dessen Mechanismen nicht widersetzen kann. Im Gegenteil, betrachtet man Werk und Texte von Wassily Kandinsky oder Piet Mondrian, so ist eine eigentümliche Verknüpfung von hohem künstlerisch selbstreflexivem Anspruch und gleichzeitiger Betonung einer teilweise sektiererisch anmutenden Spiritualität zu beobachten. Die daraus sich unweigerlich ergebende Frage nach der Notwendigkeit einer Verknüpfung von Bild und Text, oder von Bild und spiritueller Anmutung, wirft ein weiteres Licht auf das hier diskutierte Problem. Nicht allein das Konzept Autonomie öffnet das Deutungsfeld, auch die Reduktion und die damit einhergehende Verallgemeinerung der Formensprache impliziert den Verzicht auf exklusive Interpretation. Ob und wie die Tradition der romantischen Ironie, die künstlerische Selbstreflexion als Signum der Moderne nämlich, dieses Diskussionsfeld neu konturiert und wie sich dann eine neue Kartographie der loci theologici ausnimmt, bleibt noch zu debattieren.