Amerikanische (klassische) Musik des 20. Jahrhunderts: Aaron Coplands Lincoln Portrait als Beispiel für seine patriotische Phase in den 1930er und frühen 1940er Jahren

von Wolfgang Böhm in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Richard Hoppe-Sailer – Pommersfeldener Kreis – gemeinsamer Vortrag zur Jahrestagung in Obermarchtal an Pfingsten 2018

Die Bedeutung Aaron Coplands für die amerikanische klassische Musik des 20. Jahrhunderts ist sicher sehr groß. Er war berühmt als Komponist, als Dirigent und als Musikpädagoge und – vermittler und hatte mit seinen entsprechenden Veröffentlichungen dabei immer auch den Laienhörer und Laienmusiker im Blick. Copland ist eine der Schlüsselfiguren, wenn nicht sogar die Schlüsselfigur, unter den amerikanischen Komponisten.

Über den Komponisten und seine Schaffensperioden

In Coplands Werken vermischen sich unterschiedliche Einflüsse, was er selbst als etwas typisch Amerikanisches empfand. (5) S. 22f. Es finden sich Elemente der amerikanischen Folklore, der populären Musik und des Jazz, der traditionelle Kunstmusik mit einem strengen Formdenken und der Zwölftonmusik.

Jugendzeit (bis 1921)

Aaron Copland wird am 14. November 1900 als Sohn jüdischer Immigranten aus Litauen in Brooklyn/ New York geboren. Bereits mit neun Jahren arrangiert er erste Lieder am Klavier. Zunächst erhält er eine bescheidene Musikausbildung. 1917 wird er Schüler des Theorielehrers Rubin Goldmark. Copland interessiert sich für Mahler, Strauss, Skrjabin, aber auch Debussy und Ravel.

Die Pariser Jahre (1921 – 1924)

1921 reist Copland, nachdem er erfahren hat, dass in Fontainebleau die Summer School of Music für amerikanische Studenten gegründet wurde, spontan nach Paris. Er lernt namhafte Künstlerpersönlichkeiten kennen, u.a. Ravel, Strawinsky, Milhaud, Poulenc, Honegger und Cocteau. In Paris wird er Schüler von Nadia Boulanger, die ihn fortan nachhaltig musikalisch beeinflusst.

Die Faszination des Jazz (1924 – 1928)

Copland kehrt 1924 in die USA zurück. Es folgen Werke, die Einflüsse des Jazz aufweisen.

Die Arbeiten sind zum Teil sehr komplex gearbeitet. Beim Publikum stößt sein Werk auf Unverständnis.

Die Phase „der Versachlichung“ (Anfang der Dreißigerjahre)

Auf der Suche nach einer amerikanischen Musik orientiert sich Copland wieder stärker an der europäischen Musiktradition: differenzierte rhythmische Muster und eine „streng ökonomische Materialbehandlung“ (5) S. 29. Der Neoklassizismus bei Hindemith und Strawinsky rücken in das Blickfeld des Komponisten. Copland ist in dieser Phase auf der Höhe seiner musikalischen Meisterschaft, stößt aber erneut beim Publikum auf Unverständnis. Die abstrakten Werke sind schwer zu verstehen und laut Copland auch schwer aufzuführen. (5) S. 30.

Die patriotische Phase (Die Dreißiger- und frühen Vierzigerjahre)

Copland „ forderte und praktizierte nun eine drastische Reduktion und Vereinfachung der musikalischen Mittel, denn – so seine nunmehrige Überzeugung – die Sprache der Musik müsse populär sein, um gesellschaftlich relevant wirksam werden zu können.“ (5) S. 30. Ein reines l'art pour l'art und „abstrakte Kunstmusik“ lehnt er ab. Das breite Publikum solle die Musik verstehen können. Daraus entwickelt sich auch sein musikpädagogischer Ansatz, den wir durchaus auch parallel bei Leonard Bernstein finden können. Copland tritt für eine moderne, fortschrittliche amerikanische Musik ein und steht politisch eher auf der Seite des „left wing“. Die Schaffung einer geeigneten Infrastruktur (Konservatorien, Konzertsäle, Festivals, Kurse, Medienpräsenz) für die Verbreitung und das Verständnis amerikanischer Musik wird ihm zum Ziel.

Copland wendet sich der populären Volksmusik zu und wendet sich von dem gesellschaftspolitisch umstrittenen Jazz ab. Hier macht er Zugeständnisse an die öffentliche Meinung, was man neben dem volksbildnerischen Bemühen seines Ansatzes durchaus kritisch sehen kann und muss. Thematisiert werden eine typisch amerikanische Lebensweise und amerikanisches Lebensgefühl und in den Mittelpunkt rücken Landschaftsschilderungen. Der stark politisch motivierte Patriotismus wird durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1942 und die durch die Bedrohung durch den Nationalsozialismus entstehenden weltpolitischen Spannungen befeuert. Coplands Musik wird populär. Glanz, Kovacic, Permoser dazu: „Mit Coplands Musiksprache identifizierte sich der amerikanische Durchschnittsbürger, seine Musik wirkte identitätsstiftend, wurde gleichsam als klingendes Psychogramm der amerikanischen Seele rezipiert.“ (5) S.35.

Nach 1945

Copland wendet sich stärker der Vokalmusik zu. Den Anspruch, verständlich zu bleiben, behält er bei, doch seine musikalische Sprache orientiert sich nun auch wieder an komplexeren Formen (polytonale und modale Elemente und der Jazz).

Ab 1950

Copland wendet sich Schönbergs Reihentechnik zu. Sein Anspruch auf größtmögliche Verständlichkeit der Musik bleibt bestehen, daher wird die Reihentechnik der Schönbergsche Dodekaphonie auch noch nicht konsequent umgesetzt.

Zwölftonkompositionen in den Sechzigerjahren

Copland beschließt Werke in Zwölftontechnik zu komponieren.

Rückschau (ab 1970)

Die Phase des Experimentierens ist vorbei. Er greift zurückliegende Arbeiten auf und überarbeitet sie.

Am 2. Dezember 1990 stirbt Aaron Copland.

Amerikanische Musik (5)

Ein Leitmotiv der amerikanischen (Musik-)Geschichte ist das des wegen religiöser Repressionen in die USA Geflüchteten, der dort mit „Tatendrang und Gottvertrauen“ (S.10) eine neue Gesellschaft aufbaut. In den Kolonien entsteht eine Psalmen-, Hymnen- und Anthemkultur, die bis heute von besonderer musikpädagogischer Bedeutung in den USA ist und eben auch in Kompositionen, die eine im weitesten Sinne pädagogische Intention verfolgen, was für das Lincoln Portrait zutrifft, nachwirkt. Verbunden wird diese Kultur des religiösen Liedes mit einem „Go-West“-Pioniergeist, der in der Bildenden Kunst und in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts starken Ausdruck fand. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein litt die amerikanische Kunstmusik an einem Minderwertigkeitskomplex, „wonach das amerikanische Komponieren dem europäischen (noch) nicht ebenbürtig sei.“ (S. 11f.)

Die Bedeutung eines in den USA stetig wachsenden Musikmarkts auf die Entwicklung einer amerikanischen Musik darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Anders als im musikalisch-künstlerischen Bereich fühlten die USA sich im politischen Bereich nicht als minderwertig. Man hatte sich im 20. Jahrhundert von Europa längst emanzipiert und was Machtausübung betrifft von den Europäern Wesentliches gelernt. Das von uns behandelte Lincoln Portrait, das zumindest in seiner Textaussage ein politisches Musikstück ist, muss deshalb auch unter diesem Aspekt gesehen werden. Hier zeigt sich nicht der Ausdruck eines tief empfundenen Minderwertigkeitsgefühls, sondern vielmehr ein Geltungsanspruch universaler Werte, deren Garant eben die USA sind.

1935 wurde im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsprogramme ein Federal Music Project installiert, das nicht nur arbeitslosen Orchestermusikern eine Beschäftigung bieten sollte, sondern ausdrücklich auch eine Volksbildungskomponente beinhaltete. Orchester bereisten ländliche Gebiete und boten Bewährtes aus der Tradition. Daneben bestand auch der Anspruch an zeitgenössische US-Komponisten, Werke vorzulegen, deren Musiksprache vom Volk, dem Durchschnittsbürger, so Copland, auch verstanden werde.

Copland reizte die Frage nach den musikalischen Bedingungen einer Musik, die sich gewöhnlichen Hörern, dem Laien, verständlich machen konnte und dabei musikalisch interessant und auf der Höhe der Zeit der Kunstmusik war. Das Verständnis von Popularität ist hier also ein positives. Coplands Lincoln Portrait zeigt exemplarisch diese volksbildnerisch-patriotische Tendenz dieser Entwicklung. „Bis heute ist diese Form von Bekenntnis wichtiger Bestandteil öffentlichkeitsbezogenen Komponierens in den USA,(...)“ (S. 20).

Abschließend muss man sagen, dass die Polystilistik des „melting pot“ zum Markenzeichen US-amerikanischer Musik geworden ist. In Europa hat dieser Stilmix aber die Rezeption erschwert und zu negativen Kommentaren über Effekthascherei und Beliebigkeit in der amerikanischen Musik geführt.

Lincoln Portrait: Informationen und Analyse

Der Dirigent Andre Kostelanetz, dem das Lincoln Portrait auch gewidmet ist, bat mehrere amerikanische Komponísten kurz nach Amerikas Eintritt in den Zweiten Weltkrieg eine „Portrait-Galerie“ großer Amerikaner zu schaffen. „shortly after we entered the war, 'to mirror the magnificent spirit of our country'" in music.“ (9) Ursprünglich entschied sich Copland für Walt Whitman, auf Anraten Kostelanetz, einen Staatsmann auszuwählen, entschied sich Copland aber für Abraham Lincoln. Die Uraufführung fand im Mai 1942 in Cincinnati statt. Kostelanetz dirigierte und William Adams sprach den Text. Im Vorwort der Partitur bewertet Malcolm MacDonald die Komposition: „ Lincoln Portrait ist eines der verhältnismäßg wenigen Stücke, denen es gelingt, Musik und gesprochenes Wort überzeugend zu verbinden. (7), Vorwort.

„Lincoln Portrait“ wurde von all seinen Werken am häufigsten aufgeführt, wobei Copland selbst, im Vergleich zu seinen anderen symphonischen Werken, keine so hohe Meinung vom „Lincoln Portrait“ hatte. Auf die Anfrage eines Festival Managements, das Coplands Musik vorstellen wollte, antwortete er that he hoped he would be represented by something other than 'A Lincoln Portrait.'" (9)

Dreiteiliger Aufbau der Komposition

Copland hat insgesamt im Lincoln Portrait zwei populäre Melodien der Bürgerkriegszeit in seine Komposition mit einbezogen: „The Camptown Races“ auf dem Höhepunkt der ausgedehnten Orchestereinleitung und das Hauptthema des Werkes ist eine Ableitung des Volkslieds „On Springfield Mountain (7). Hier nun der Aufbau im Einzelnen:

TEIL 1 (Die Themen werden vorgestellt.)

  1. Mysterious fatality“-Thema (00:00 – 02:28)

    The first theme is meant to “suggest something of the mysterious sense of fatality that surrounds Lincoln’s personality.” Lincoln even considered himself a fatalist, describing himself as “but an accidental instrument, temporary,and to serve but for a limited time” (in a reply to Oliver P. Morton in Indianapolis, 1861).“ (10)

    Copland selbst sagte zu diesem ersten Teil, er wollte „das mysteriöse Gefühl des Fatalismus', das Lincolns Person umgab“ darstellen. Lincoln sah sich selbst als Fatalist „ein zufälliges Werkzeug auf Zeit, das für eine begrenzte Zeit dient.“ (10)

  1. Springfield Mountain“-Thema (02:28 – 03:58)

    Hierbei handelt es sich um ein Thema, das von dem Volkslied „Springfield Mountain“ abgeleitet wurde, das zu Lincolns Zeit sehr populär war. Der Folksong wird auch als erste amerikanische Ballade bezeichnet. In diesem Teil soll es um das kulturelle Erbe Amerikas gehen („Americana“) und Lincolns “gentleness and simplicity of spirit,” (10), also um Lincolns Freundlichkeit, Güte, Sanftmut und Einfachkeit des Geistes, so Copland. Coplands Fassung von „Springfield Mountain“ für Soloklarinette ist langsamer im Tempo und gedämpfter in der Dynamik.

TEIL 2 Camptown Races (03:59 – 06:09)

Camptown Races wurde 1850 von Stephen Foster für Christy's Minstrels komponiert. Blackface minstrelsy waren Shows, in denen schwarz gekleidete und v.a. im Gesicht schwarz geschminkte weiße und sehr erfolgreiche Varietésänger auftraten. Die Christy's minstrels führten u.a. exklusiv Kompositionen von Stephen Foster auf. Später distanzierte sich Foster und schrieb nicht mehr für minstrels. In diesen Shows wurden schwarze Sklaven stark stereotyp nachgeahmt. Der Akzent wurde nachgeäfft. Das Leben der Schwarzen wurde als glücklich und sorgenfrei dargestellt. Die Sklaverei wurde als die ideale Lebensform für schwarze Menschen in Amerika angepriesen. Vor allem in den Städten der Nordstaaten wurden minstrels aufgeführt und unterdrückten aufkeimende Stimmungen gegen die Sklaverei. Auf der anderen Seite wurde dieser in den minstrels gezeigte Rassismus auch kontrovers diskutiert (10). Copland über diesen Teil: “an attempt to sketch in the background of the colorful times in which Lincoln lived. Sleigh bells suggest a horse and carriage of nineteenth-century New England, and the lively tune that sounds like a folk song is derived in part from ‘Camptown Races.’“ (10) - „ein Versuch, den Hintergrund der farbenfrohen Zeiten, in denen Lincoln lebte, zu zeichnen. Die Glöckchen oder Schellen erinnern an Pferd und Kutsche in Neu-England des neunzehnten Jahrhunderts (...)“ (10).

Ob Copland „Camptown Races“ zitierte, um auf die Rassenspannungen in Lincolns Zeiten aufmerksam zu machen, ist mir nicht bekannt. Vielleicht war das Lied für ihn aber auch einfach Teil des kulturellen Erbes (Americana) und er hatte hier keinen kritischen Blick auf die Geschichte des Songs.

Beide Themen erklingen gemeinsam (06:10 – 07:09)

TEIL 3 Der Erzähler tritt auf. (07:10 - 14:36)

Der Partitur stellt Copland eine Anweisung an den Erzähler voran, die diesem die Aufgabe zukommen lässt, den Text ohne besonderen emotionalen Nachdruck zu lesen, einfach und direkt. Die Worte selbst seien schon ausreichend dramatisch genug, so Copland. (7)

Zum Text

Neben einigen beschreibenden Kommentaren über Lincoln ("Abe Lincoln was a quiet and a melancholy man") findet man im Text Auszüge aus seinen Reden:

Quellenangaben

  1. http://www.fr.de/politik/europa-reise-maerchenstunde-mit-donald-trump-a-1318185 , 30.03.2018

  2. http://www.classicfm.com/discover-music/humour/donald-trump-reviews-music/beethovens-symphony-no-9/ 30.03.2018

  3. Tonart, Beitrag vom 13.07.2016 im Deutschlandfunk

  4. https://en.wikipedia.org/wiki/Lincoln_Portrait , 30.03.2018

  5. Glanz, Christian/ Kovacic, Ernst/ Permoser, Manfred (Hrsg.): Zeit für … Aaron Copland, Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2001

  6. https://en.wikipedia.org/wiki/Lincoln_Portrait, 30.03.2018

  7. Copland, Aaron: Orchestral Anthology, Volume 2, The Boosey and Hawkes Masterworks Library, London 1999, S. 20

  8. Aaron Copland: Vom richtigen Anhören der Musik – Ein Komponist an sein Publikum, Hamburg 1967

  9. https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/books/99/03/14/specials/copland-onlincoln.html?oref=login , 07.04.2018

  10. https://cso.org/globalassets/institute/ pdf/teachersguide_soundsconflictpeace.pdf , 07.04.2018

  11. https://de.wikipedia.org/wiki/Aaron_Copland , 28.04.2018

Literaturempfehlung:

Glanz, Christian/ Kovacic, Ernst/ Permoser, Manfred (Hrsg.): Zeit für … Aaron Copland, Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2001

Neben interessanten Artikeln der Herausgeber über amerikanische Musik und zu Aaron Copland findet man in diesem Band auch Einführungen in wichtige Werke des Komponisten.