• Der Text wurde in seinen drei Teilen vorgestellt und diskutiert.
    A. Erstes Buch. 371 numerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy.
  • B. Zweites Buch. Bekenntnisse einer Familie Esterházy. (201 Paragraphen in neun Kapiteln.)
  • C. Verbesserte Ausgabe. (Vorwort und vier Dossiers.) Die verbesserte Ausgabe ist nichts weniger als was ihr Titel verspricht, verbessert sie doch weder die »numerierten Sätze«, noch die »Bekenntnisse«, sondern verläßt vielmehr die fiktionale Welt ganz und gar. Sie stellt sie in Frage.

»Die Figuren dieser Romanbiographie sind frei erfunden: Sie besitzen auf den Seiten dieses Buches Heimatrecht und Persönlichkeit, in Wirklichkeit leben sie nicht und haben auch nie gelebt.« (B. Motto)
»Wenn Sie den Mut hatten, das hinzuschreiben, warum erschrecken Sie, wenn es auf einmal Ernst wird und die Wörter sich rühren und lebendig werden. Ich möchte nicht dichten, wenn es nur Spaß wäre, denn wo dürften wir jetzt noch redlich und wahrhaft sein, wenn es nicht im Gedichte ist?« (Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, II, 16, S. 445)
»Ich muß mich jetzt der Wirklichkeit anpassen, bisher nur den Wörtern.« (C S.7)

  1. Der erste Teil (A) wurde durchs Technische, genauer, die Beobachtung der virtuos gehandhabten literarischen Formen einigermaßen zu bewältigen gesucht. Es wurden behandelt (oder zumindest gestreift):
    a. Mythische Szene (§ 11, die Geburt des Namens). b. Märchen (§ 12). c. Capriccio und Travestie (§ 21 Dichtung und Wahrheit). d. Historische Anekdote (§ 16). e. Historische und heroische Anekdote (§§ 23, 24). f. Witz und Kalauer (§§ 15, 54), Zote (§ 194). g. Aperçu (§ 4, 352). h. Schwank (§ 22 doppelt gebrochen). i. Katalog (§ 32 Mobilienverzeichnis, Urbar). j. Kriminalgeschichte (§ 59 im Schulslang). k. Karikatur (§ 61 philosophische). l. Syllogismus (§ 107 welcher modus, abductio in absurdum?). m. Aventiure (§ 70). n. Aphorismus (§ 1). o. Zeitungsmeldung (§ 93).
    Die Anordnung und Abfolge der Texte spielt eine Rolle. In ihrem Zusammenstand bilden sie Kontraste oder sie spiegeln einander, wie die Gedichte in einer komponierten Anthologie. Verweise über weite(re) Strecken hinweg kommen vor (§ 43 und S. 104), aber Einheitsbildungen inhaltlicher Art werden dünn gehalten oder durchgestrichen. (Als Gegenbeispiele wurde an Joyces Ulysses und Doderers Strudelhofstiege erinnert.) Wie läßt sich eine Anekdotensammlung, ein Buch mit Aphorismen, Witzen, Aperçus usw. erzählen? Ein Faden wird mit jedem Stück immer wieder neu aufgenommen und ist schon – nicht abgebrochen – fertig geschlungen: lauter kleine Kreise. Wie stehen die zusammen? — nur insofern sie alle vom VATER handeln, sei’s der Vater mit dem Sagenpferd von 1625 und 1996, der mythische Vater, der Vater mit dem Stammbaum, der unermeßlich reiche, der den Haydn schätzt und kujoniert, der Vater, der die Tankstelle überfällt, die Mutter gewinnt, mit den Türken und Kommunisten, seiner Frau und seinen Geliebten kämpft, trinkt, malt, Parkettböden legt, Nachhilfeunterricht gibt, schwadroniert, theologisiert, experimentiert. Die vielen Kreise kurzer und kürzester Erzählformen verweisen auf ein Zentrum. Alle sprechen vom Vater, aber sie bringen das Bunteste, Vielfältigste und Widersprüchliches herbei. Sie bringen Vieles ohne Vereinigung. Es bildet sich, im einheitslosen Verweisen, keine erzählte »Persönlichkeit« (B. Motto). Der Verweispunkt der vielen Kreise bleibt leer.

  2. Der zweite Teil von Harmonia Caelestis (B) ist eine Romanbiographie. »Die Figuren dieser Romanbiographie sind frei erfunden: Sie besitzen auf den Seiten dieses Buches Heimatrecht und Persönlichkeit, in Wirklichkeit leben sie nicht und haben auch nie gelebt.« (B. Motto) An die Stelle des Sammelsurium – aus dem abwertenden Wort haben wir einen Terminus für das schriftstellerische Verfahren des ersten Teils gemacht – treten reich und farbig erzählte Lebensabschnitte: Bekenntnisse einer schönen Seele Familie Esterházy. So schließen sich an die Erzählung des Großvaters autobiographische Abschnitte, Begebenheiten aus den Sechziger Jahren, aus der Jugendgeschichte des Erzählers, die Geschichte von Vater und Mutter, die Aussiedlung, die Zeit von Stalins Tod (5. III. 1953) bis zur Verhaftung des Vaters und der Zeit nach seiner Freilassung. Dieser Teil des Romans – der Berichterstatter der Verbesserte(n) Ausgabe nennt Harmonia Caelestis ausdrücklich Roman (C. S. 43) – wurde in Siebenmeilenstiefeln referiert.

  3. Was besagt der pointierte Anfang des Buches: »Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt.« (Wie schillert das Bonmot! Spottet der Autor, im Bewußtsein seiner Souveränität und der Unkorrigierbarkeit seiner fiktiven Welt? (Anything goes?) Wünscht er sich gar eine Wahrheit, die seine Souveränität begrenzt? Was haben Wahrheit und Lüge mit diesem Buch zu tun?) Der Aphorismus steht zu beiden Teilen des Romans schief. Sammelsurium und Romanbiographie sind nicht gehalten durch die Wahrheit faktischer Vorkommnisse, historischer Geschehnisse und gesetzlicher Zusammenhänge. Es gibt für sie keine Wahrheit, die man kennen könnte und an der gemessen, sie – sei’s leicht oder schwer – zu lügen vermöchten. Gelingen und mißlingen können sie. Das ist aber keine Frage von Lüge und Wahrheit. »Die Dichter lügen.«

  4. Es wurde daran erinnert, was Wahrheit der Fiktion bedeutet hat (und bedeuten kann).
    a. Selbst das Geschichtsdrama und der historische Roman können nicht an einer Wahrheit gemessen werden, obgleich sie in einem Material arbeiten, das man kennen kann. Für Schillers Wallenstein ist keine verbesserte Ausgabe nötig noch möglich, falls es sich herausstellte, daß er voll historischer Irrtümer steckte. Er wäre höchstens dramatisch, in seinem eigenen Metier, zu verbessern. Schiller wählt Begebenheiten aus der Geschichte, nicht um diese selber darzustellen (Geschichtsschreibung). Er stellt vielmehr in diesem schon bedeutsamen, aufgeladenen Stoff den Kampf einer bestimmten Person um sittliche Autonomie dar.
    b. Es wurde ferner an die Poetik des romantischen Romans erinnert und an Eichendorffs archetypisches Erzählen.
    c. Ferner an die älteste, anhaltende Tradition der poetischen Wahrheit: Tragödie und Epos sind die (vollkommene) Darstellung individueller Personen in der Einheit einer Handlung, die nicht ins Unabsehbare der geschichtlichen Welt ausfranst, sondern ein Ganzes bildet. (Ein Musterbeispiel aus der Moderne wäre Joyces Ulysses, ein komisches Epos ohne loose ends.) Die Wahrheit des Romans hängt an seinem Gelingen: an der Einheit der Handlung, in der Personen und ihre Welt zur Anschauung kommen und erhellen, was menschliches Leben sein kann.

  5. Esterházy dekonstruiert den Familienroman, obgleich er über ‘seine’ Familie schreibt, en gros im Sammelsurium mit dem Meinvater, mehr en détail und zusammenhängend in der Romanbiographie. Er dekonstruiert aber auch den Roman und seine poetische Wahrheit (4. a.- c.): Obgleich der Meinvater im Sammelsurium der leere Verweisungsort der 371 kleinen Erzählungen, Witze, Bonmots, historischen und heroischen Anekdoten, Schelmenstreiche, Kriminalstückchen, literarischen Travestien, philosophischen Karikaturen, pseudowissenschafilichen Experimente, Zeitungsberichte, mythischen Urgeschichten etc. bleibt, und obgleich der Vater im zweiten Teil ausdrücklich ein fiktionale Figur sein soll, die nur auf den Seiten dieses Buches Heimatrecht und Persönlichkeit besitze, in Wirklichkeit aber nicht lebe, noch gelebt habe, fühlt sich der Ich-Erzähler zutiefst getroffen, vernichtet, als er entdeckt – in der Wirklichkeit entdeckt – , daß sein Vater Informant der Staatssicherheit war. Mit diesem Schock setzt die Verbesserte Ausgabe ein. Der Ich-Erzähler wird zum Berichterstatter Péter Esterházy (»Ich muß mich jetzt der Wirklichkeit anpassen, bisher nur den Wörtern«):
    a. Harmonia Caelestis ist fertig. Er liest daraus vor; hört sich (Péter Esterházy) und den Vater (Meinvater oder Mátyás Esterházy?) gelobt.
    b. Er excerpiert die Dossiers seines Vaters; liest die Aufträge für den Agenten Mátyás Esterházy, die Durchführung der Aufträge und die Beurteilung des Führungsoffiziers.
    c. Markiert die erste und die zweite Abschrift und seine Kommentierungen, so daß der Leser sie auseinanderhalten kann. Verzeichnet seine Erschütterung und seine Tränen.
    d. Er spricht mit der Dame, die Harmonia Caelestis in die Maschine schreibt, über den Roman.
    e. Berichtet von den Leuten, die ihm beim Excerpieren im Lesesaal begegnen; er deckt die Dossiers vor ihnen zu.
    f. Er reflektiert a. - f.

Die Wirklichkeit, die historische, kennbare, außerkünstlerische bricht in die so glänzend vorgeführte Fiktion des Sammelsurium, und in der Romanbiographie gewinnt die Biographie die Oberhand und ruiniert den Roman. Beansprucht der anscheinend so souveräne Autor insgeheim auch noch historische Wahrheit für seinen Roman? Sollen Fiktion und historische Wirklichkeit randlos beieinander stehen können? Die geschichtliche Wahrheit des Vaterlebens fährt in die glänzend leichte, spielerische, spöttische Fiktion und den dekonstruierten Familienroman und macht sie – wenn nicht zur Lüge, so doch zur herben Täuschung. Der Dichtung und ihrer Wahrheit hat Esterhäzy nicht mehr vertraut und die Wahrheit der außerkünstlerischen Welt holt ihn ein. In diesem Schock geht auch die hübsche postmoderne Theorie, unsere Wirklichkeitserfassung sei im Grunde eine (nicht durchschaute) Fiktion, flöten. Der erste Satz entpuppt sich als böse Ironie. Wenn man die Wahrheit nicht kennt, ist es elend schwer zu lügen – aber in das Elend der (unfreiwilligen) Lüge ist er geraten in seiner spielerischen Dekonstruktion des Romans. Die Verbesserte Ausgabe ist die Darstellung dieser Überwältigung.