Schändung hat seit seinem Erscheinen im Jahr 2005 auf deutschen und ausländischen Bühnen Furore gemacht. Titus Andronicus gehörte im Jahr 2006 – ich weiß nicht wie lange schon und wie lange noch – zum ständigen Repertoire des Globe Theater in London. Beides ist ungewöhnlich, denn das Stück ist entsetzlich.
Wie kann diese Tragödie, die, nach mancherlei Entschärfung, 1724 endgültig von der Bühne verschwindet, um erst 1923 in erkennbarer Gestalt wieder aufzutauchen, Aufnahme in den normalen Spielbetrieb finden? Botho Strauß’ Wiederholung des Dramas in einer eigenen Form gehört zu dieser Rezeptionsgeschichte und zum Aufkommen einer Sensibilität, die solche Normalitäten erträgt. Die Frage nach dieser Geschichte und letztlich nach der veränderten Erfahrung und Einbildungskraft grundierte unsere Arbeit an den Stücken.
Zwei Termine standen zur Verfügung. Zuerst wurde Titus Andronicus so eingehend wie möglich vorgestellt. (Für viele Teilnehmer nur eine präzisierende Wiederholung, da der Plot aus der Lektüre bekannt war.) Die Aufführungsgeschichte zeigt, wie wenig fixiert das Stück ist, was jeweils Anstoß erregt, für unspielbar oder nebensächlich gilt und bis in die Gegenwart zu neuen Realisierungen (bis hin zur Aufgabe des Stücks) führt.
In einem zweiten Schritt wurde Schändung dem Shakespearschen Text (nach der Quartoausgabe von 1594 und der Folioausgabe von 1623) gegenübergestellt. Strauß’ Wiederholung zeigt eine große Spielbreite von Formen:

  • von der wörtlichen Übernahme, die zum Stilbruch genutzt wird,
  • vom Vers über rhythmische Prosa bis zur alltäglichen Rede,
  • von der Transposition des Alten ins Moderne bis zur Psychologisierung der Figuren,
  • von der Streichung oder Ersetzung von Szenen durch neue und von Shakespeares Personen durch Zeitgenossen,
  • vom Bruch der Bühnenillusion (so z. B. wenn die Schauspieler der Hauptpersonen und die Regisseurin auftreten und sich selbst spielen),
  • von der Überbietung des entsetzlichen Geschehens bis hin zur Einbettung des ganzen Stücks in einen scheinbar trivialen Rahmen.

Einige dieser Veränderungen, besonders der Bruch der Bühnenillusion, der das Theater doch nur mit anderen Mitteln fortsetzt, ferner die ‘psychoanalytische’ Verwüstung der Lavinia und schließlich der Rahmen (eine junge Mutter und ihr Bub Lukas, sie geht zum Einkaufen, er soll von seinem Faltstühlchen aus zusehen, was passiert), der ins Stück hineinwirkt und es am Ende verfremdet, wurden ausführlich und lebhaft diskutiert.