Derrida ist einer der bekanntesten und zugleich umstrittensten Philosophen der Gegenwart. Während er in vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen von der Literaturwissenschaft bis zur Theologie, aber auch in Architektur und Kunst produktiv rezipiert wird, stößt er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei den Vertretern seines Faches auf heftige Kritik und Ablehnung. Die Gründe liegen teils in der ungewohnten Schreib- und Sprachform, teils in einer fremdartigen Terminologie, aber sicher auch in der Intention Derridas, mit seiner Arbeit die abendländische Philosophie insgesamt von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hinein in Frage zu stellen. Das Verfahren, dessen er sich dabei bedient, heißt »Dekonstruktion«. Dekonstruktion wessen? Der Metaphysik, deren Denken eines fundierenden Seins als Präsenz für die europäische Kultur bestimmend geworden ist.
Ineins mit der Fixierung auf Präsenz ist das Denken der Metaphysik gekennzeichnet durch hierarchische Begriffsoppositionen wie Sein/Seiendes, Ursprung/Entsprungenes, Unendlich/Endlich, Intelligibel/Sensibel, Signifikat (Bedeutung)/Signifikant (Zeichen), Sprache/Sprechen, Sprache/Schrift usw. Die Arbeit der Dekonstruktion besteht in einem ersten Schritt darin, in den Texten der Metaphysik solche Hierarchien zu identifizieren. In einem zweiten Schritt erfolgt der Umsturz dieser Hierarchien durch Herausarbeiten von Faktoren, die für dieses Denken zwar konstitutiv sind, von ihm jedoch verleugnet, abgewertet oder als fremd ausgeschlossen werden. Der dritte Schritt entwirft eine Vorstellung von Möglichkeiten, die sich nach dem Umsturz der Hierarchien und unter Anerkennung des von der Metaphysik beanspruchten, aber verdrängten Faktors ergeben könnten. Er läßt metaphysisch verstellte und entstellte Phänomene in neuem, ungewohntem Licht erscheinen. Das sind, beinahe sträflich auf ein Schema gebracht, die Schritte der Dekonstruktion. Die ekonstruktion – und dieses Verfahren ist im Wesentlichen die Philosophie Derridas – gewinnt jedoch ihre Evidenz jeweils nur im Prozeß genauester Interpretation eines Textes.
Dazu ist der Vortrag Derridas Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Linguistik Ferdinand de Saussures in der »Grammatologie« von 1967 gefolgt, einer vergleichsweise fühen Schrift Derridas, die aber den Vorteil hat, an jene »Begriffe« heranzuführen, die im Bewußtsein der kulturell interessierten Öffentlichkeit für die Philosophie Derridas stehen.
Im programmatischen Ansatz konzipierte Saussure Linguistik als Teilbereich einer allgemeinen Semiologie, d.h. einer Theorie des Zeichens, nach der jedes Zeichen in seiner Einheit von materiellem Träger (z.B. Laut = phonē Schriftzeichen = gramma) und ideeller Bedeutung als etwas gefaßt wird, dessen Wert – in synchronischer Betrachtung – durch seine Differenz zu den anderen Zeichen im Gesamt des Zeichensystems definiert wird. Dieser Ansatz Saussures ist nach Derrida metaphysikkritisch einmal deswegen weil er, anders als die abendländische Tradition, keinen Vorrang der Bedeutung (Idee) gegenüber deren materiellen Träger behauptet, zum anderen deswegen, weil er, wiederum abweichend von der Tradition, keinen Vorrang des Lautes (der phonē) vor anderen materiellen Trägern (z.B. der Schrift = gramma) unterstellt. Diesem Ansatz ist Saussure indes, dem allgemeinen metaphysischen Sog erliegend, bei der Ausarbeitung seines Konzepts nicht treu geblieben. Es entwickelt sich auch bei ihm eine Hierarchie, in welcher der Begriff, der in einfacher gedanklicher Präsenz zu erfassen ist, den obersten Rang einnimmt. Ihm gegenüber ist die Lautgestalt zweitrangig, wenngleich für Saussure ein »natürliches Band« zwischen Gedanke und Stimme besteht. Obwohl zweitrangig gegenüber dem Begriff ist nach Saussure das Lautsystem doch wie kein anderes geeignet den Gedanken auszudrücken. was aber bedeutet, daß das phonische System seinerseits an die Spitze der Hierarchie aller Zeichensysteme rückt, während die Schrift auf einen der unteren Ränge abrutscht. Dieses von Derrida so genannte »repräsentativistische« Konzept der Schrift wurde möglich durch die Entwicklung der phonetisch-alphabetischen Schrift bei den Griechen. Es bringt aber eine nach Saussure große Gefahr mit sich, nämlich die, daß man wegen der großen Ähnlichkeit der Schrift mit der Sprache, diese mit jener verwechselt. Das Schriftbild prägt sich auf Kosten des Lautes ein; das »natürliche Verhältnis« ist umgedreht.
Woher aber hat die Schrift, dieses angeblich so sekundäre Phänomen, diese Kraft der Gefährdung? Sie muß über ein stärkeres als das ihr zugetraute semiotisches Potential verfügen. Gibt es nicht eine andere als die phonetisch-alphabethische Schrift, wie z.B. die chinesische, die dem Laut vorausgeht? Die Hierarchie von Sprache und Schrift ist schon deshalb fragwürdig, weil es eine rein phonetische Schreibweise gar nicht gibt. Der zeitliche Verlauf der Lautzeichen wird in der Schrift veräumlicht; es bedarf rein graphischer Interpunktionen, wie z.B. des Fragezeichens und der räumlichen Differenzen zwischen den Graphemen, ohne die die phonetische Schrift nicht funktionieren würde. Die Schrift bringt aus der Außenwelt etwas in die Abbildung des Inneren der Sprache, ohne das die reine Bedeutung (Idee), in welcher die Sprache nach metaphysischem Verständnis aufgehoben scheint, durch die zeitlich wechselnden Bewußtseinszustände hindurch sich nicht halten könnte. Dieses abgewertete Äußere eines Inneren, ohne das dieses nicht sein könnte, ist der Punkt, an dem die Dekonstruktion ansetzt und die Hierarchie zum Einsturz bringt.
Was wäre eine Schrift jenseits oder diesseits der Hierarchie? Sie wäre eine, in der es keine Trennung von Schrift und Sprache und keine des Signifikats (der Bedeutung) vom Signifikanten (dem anzeigenden Medium) gäbe. Weil die Differenz in diesem System, durch die der Wert der Zeichen definiert wird, keine – wie bei Saussure – synchrone, präsentische Struktur, sondern ein offener, dynamischer Prozeß ist, ist jedes anwesende Zeichen die Spur der abwesenden. Präsenz entzieht sich fort und fort. Es gibt nach Derrida »durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren«. Die »generative Bewegung innerhalb des Spiels der Differenzen« faßt er, das »e« in différence durch ein »a« ersetztend, in das Kunstwort différance. Es bringt in die Saussuresche Differenz das präsenzkritische différer, das Aufschieben, ein und übernimmt aus dem Partizip Präsens dieses Wortes (différant) das »a«, um das Aktivische der Sinnverschiebung zu betonen. Différance bezeichnet das, was Derrida »Urschrift« nennt. Zugleich ist sie deren Zeugnis; denn weil dieses Wort sich beim Hören nicht von dem normal geschriebenen unterscheidet, erschließt sich nur im Sehen der Schrift das, was es meint.
Wenn Derrida die différance Schrift oder gramma nennt, dann will er nicht – in bloßer Umkehrung der alten Hierarchie – der Schrift einen sachlichen Vorrang einräumen, sondern er tut es aus strategischen Gründen, um mit einem Gegenakzent das wissenschaftliche Interesse auf die »graphische Substanz« und mit ihr auf »Geschichte und System der Schriften jenseits des abendländischen Raumes« zu lenken. Es geht ihm darum, durch Aufbrechen der phonozentrischen und logozentrischen Schrift mit Mitteln, die er ihren eigenen uneingestandenen Voraussetzungen entnimmt, andere Schriftsysteme wie das hebräische, arabische oder chinesische als genuine Möglichkeiten wieder in den Blick zu bringen und so auch den Eurozentrismus zu überschreiten in ein Feld, das Europa und außereuropäische Kulturen in je eigener Ausprägung gemeinsam haben.
Als Franzose im algerischen El Biar an der Grenze zur arabischen Welt aufgewachsen und unter der Vichy-Regierung als Jude ausgegrenzt und ausgeschlossen aus französischen Schulen setzt Derrida mit seiner dekonstruktiven Arbeit beim Außen des Innen des europäischen Denkens ein und ist deswegen ein Randgänger der Philosophie. Seine »Randgänge der Philosophie« – so der Titel eines seiner Bücher – stoßen in dem, was er Schrift oder Urschrift nennt, auf einen Sinn, den die Reflexion nicht erzeugt, sondern als gegebenen findet, gegeben nicht in Präsenz, sondern als Spur eines Vorübergegangenen.