Seit dem Vorsokratiker Xenophanes von Kolophon (ca. 565-470 v. Chr.) ist in der griechischen Philosophie eine Kritik an der homerischen Götterwelt, ihrer Menschenähnlichkeit (Anthropomorphismus) und ihrem bisweilen unsittlichen und streitlustigen Lebenswandel nachzuweisen. In seinem Idealstaat verbietet Platon (428/7-347 v. Chr.) Homers Werke und insbesondere die homerischen Götterdarstellungen, da sie unvereinbar seien mit seiner auf Xenophanes aufbauenden Theologie, die Wirkung der öffentlichen Homerrezitationen und Aufführungen eine Gefahr darstellten für die ‘Seelenhygiene’ der Polisbewohner und Homer in besonderem Maße in der Kindererziehung (»Homer war das Grundbuch des Schulunterrichts im gesamten Altertum«) später nicht mehr gutzumachende Schäden anrichten könne.
 Platons radikale Ausweisung der mimetischen Dichtung und ihres ersten Vertreters Homer hat in der Folgezeit zahlreiche und gemischte Reaktionen hervorgerufen. Ein Beispiel ist der mittelplatonische Redner Maximos von Tyros (Ende 2. Jh. n. Chr.): Platons Zensurpolitik übersehe, daß Homers Götterdarstellungen einen Hintersinn hätten, nicht wörtlich verstanden werden dürften. Außerdem sei Platon in rebus philosophicis in weit größerem Maße von Homer beeinflußt als von seinem direkten Lehrer Sokrates.
 Für den Neuplatoniker Proklos (412-485 n. Chr.) stellen sowohl Homer als auch Platon höchste Autoritäten, ihre Werke ‘heilige Schriften’ dar. Damit ergibt sich für Proklos eine zweifache, beinahe unlösbar anmutende Aufgabe: In seinem Beitrag zur Diskussion um die Dichterzensur in Platons Staat muß er versuchen, sowohl Homers Darstellung der Götter als auch Platons Homerkritik zu verteidigen.
In Proklos’ Homerexegese können zwei Strategien voneinander unterschieden werden: Maximos’ Aussage folgend, nimmt Proklos an, daß Teile der homerischen Theologie allegorisch aufgefaßt werden müssen. An exemplarischen Passagen der beiden Epen führt Proklos diese Art der Auslegung vor. Im Vortrag wurden u.a. das Parisurteil aus der Vorgeschichte der Ilias und die Theomachie oder »Götterkampf« (Ilias, Buch XX) vorgestellt. Eine zweite Methode der Exegese fußt auf dem philosophischen System des Neuplatonikers. Demzufolge hat jeder Gott eine sogenannte seira (griechisch für Strick oder Kette) unter sich. Alle göttlichen Mittelwesen, die einem bestimmten Gott unterstellt sind, - und bei Proklos gibt es eine ganz Reihe solcher Mittelwesen, die vor allem im Hinblick auf ihre Vermittlungsfunktion mit den Engeln des Christentums zu vergleichen sind: Heroen, Boten (angelloi), Daimonen - tragen denselben Namen wie ihr ‘Leitgott’. So kann z.B. ein Streit von Hera und Zeus ausgelegt werden als eine Auseinandersetzung der betreffenden Hera und Zeus Daimonen.
 Mit Hinweis auf eine Passage in Platons Staat unterstreicht Proklos, daß eine mögliche allegorische Exegese, ein Hintersinn (gr. hyponoia), der bei Homer zu unterstellen sei, von Kindern unmöglich erkannt werden könne. Damit rechtfertige sich im Hinblick auf die Kindererziehung Platons Zensur augenfällig. Um Platons Dichterkritik auch in ihren anderen Aspekten gutheißen zu können, entwickelt Proklos eine Theorie der Dichtung, die Homer und Platon gemeinsam hätten, die sich in ihren Werke gleichermaßen nachweisen lasse. Der Neuplatoniker unterscheidet zwischen (1) inspirierter (suprarationaler), (2) epistemischer (rationaler) und (3) mimetischer Dichtung. Der Schlüssel zu seiner Verteidigung Platons ist, daß er die mimetische Dichtung, gegen die sich Platon in seiner Zensur gewandt hatte, wiederum zweiteilt in (3a) eikastische (nachahmende) und (3b) ‘phantastische’ (im Sinne des griechischen Wortes phantasma, das »Erscheinung«, »Traumbild«, »Trugbild« bedeutet), allein auf sinnliches Vergnügen und Täuschung zielende Dichtung. Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidung argumentiert Proklos, daß Platon es in seiner Zensur lediglich auf Dichtung der Art 3b abgesehen habe. Auf diese Weise gelingt es ihm ein schwieriges platonisches (im Sinne der platonischen Tradition) Dilemma zu lösen und den »alten Streit zwischen Dichtung und Philosophie« (Platon, Staat 607b) salomonisch zu schlichten.