Zu den Themen, die in der Blütezeit des kalam, der islamischen spekulativen Theologie (d.h. Mitte 8. bis Mitte 10. Jhdt. n. Chr.) heiß diskutiert wurden, gehörte auch die Frage, ob Gott in seiner Allmacht sämtliche Ereignisse festlege, oder ob dem Menschen Raum bleibe, sein Handeln selbst zu bestimmen, für das er ja schließlich von Gott zur Verantwortung gezogen würde.
Nach einer kurzen Einführung in den historischen Hintergrund dieser theologischen Auseinandersetzung ging der Vortrag zunächst dem Ursprung des Problems in den schriftlichen Quellen des Islam nach: Im Qur'an kommt immer wieder die Allmacht Gottes zur Sprache, der alles bestimmt und auch die Herzen der Menschen lenkt; gleichzeitig wird jedoch Gottes Gerechtigkeit hervorgehoben und der Mensch unter Hinweis auf den Tag des Gerichts aufgefordert, sein Handeln an Gott auszurichten was die Möglichkeit, dieses selbst zu bestimmen, vorauszusetzen scheint. In den Überlieferungen des Hadith tritt hingegen eine fatalistische Haltung zutage, die wohl mit vorislamischen Vorstellungen von der Unausweichlichkeit des Schicksals in Verbindung steht.
Im weiteren Verlauf des Vortrags wurde die Entwicklung der gegnerischen theologischen Positionen in der Diskussion um die göttliche Vorbestimmung (Qadar) sowie der entsprechenden Parteien – Qadariyya (Indeterministen) resp. Mujbira (Deterministen) – dargestellt. Anhand von Quellentexten wurde der Inhalt sowie die Argumentationsform und -technik der Diskussion zur Zeit ihres Höhepunktes etwas näher untersucht.
Die ersten Textbeispiele stammten aus dem »Buch der fünf Fundamente« von 'Abd al-Jabbar (gest. 1025), einem späten Vertreter der theologischen Schule der Mu'tazila, die v.a. im 9. Jhdt. florierte. Unter Berufung auf Gottes Gerechtigkeit, die sich an objektiven und für den Menschen unabhängig von religiöser Offenbarung erkennbaren Maßstäben von Gut und Böse orientiere, vertraten die Mu'taziliten die Auffasssung, daß der Mensch sein Handeln frei bestimmen können müsse, da er nur dann von Gott dafür zur Verantwortung gezogen werden könne.
Die deterministische Position war durch Auszüge aus Abu 'I-Hasan al-Ash'aris Schrift »Erhellung der Fundamente des Islam« vertreten. Ash’ari (873-935), aus der Mu'tazila hervorgegangen, doch später zum »Traditionalismus« übergetreten, legt hier seine (abgeschwächt) deterministische Auffassung im Kontrast zur Theorie der Mu'tazila dar. Dem Problem, daß dem alles bestimmenden Gott auch das Wollen der bösen Taten des Menschen zugeschrieben werden muß, wird mit Argumenten folgender Art begegnet: Gottes Wollen solcher Handlungen sei nicht mit dem entsprechenden menschlichen Wollen zu vergleichen; Gut und Böse würden erst von Gottes Gesetz festgelegt, für Gott selbst gebe es also weder Gut noch Böse. Ferner wird (v.a. von Ash'aris Nachfolgern) eine Theorie entwickelt, wie sich der Mensch seine von Gott vorbestimmten Taten willentlich aneigne.
Als besonderes Charakteristikum des Disputs ergab sich, daß das Hauptaugenmerk beider Parteien nicht dem menschlichen Handeln galt, sondern dem richtigen Gottesbild. Es ging den Mu'taziliten in erster Linie nicht um die menschliche Freiheit, sondern darum, Gottes Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten; ihren Gegnern ging es darum, Gottes uneingeschränkte Allmacht zu wahren. Das menschliche Handein wird dabei nur da zum Problem, wo es böse ist.
Am Ende des Vortrages wurde kurz darauf eingegangen, wie die deterministische Position im Rahmen des allgemeinen Siegeszuges der grundsätzlich gegen jede Art von kalam eingestellten, sich allein auf Qur'an und Hadith berufenden Traditionarier die Oberhand gewann. Die Ash’aritische Lehre, die die Doktrin der Traditionarier in die Form des kalam gegossen hatte, wurde erst später in den sich nun konstituierenden Sunnismus integriert.