Der Vortrag versuchte in die Konzeption des »Geistes« (mens), insbesondere des menschlichen Geistes im Denken des florentiner Neuplatonikers Marsilio Ficino einzuführen. Ausgehend von dem in Ficinos Oeuvre ganz allgemein verwendeten Begriff »mens«, der – analog zur mittelalterlichen Vorstellung der »latitudo intelligentiarum« – die ganze Breite der geistigen, d.h. intellektuellen Wirklichkeiten, also auch Gott als »mens suprema« und die Engel-Geister (mentes angelicae) umfaßt, wurde zunächst in einer Näherbestimmung von Geist-Sein durch die Funktionen Selbst-Reflexivität und Intentionalität auf den menschlichen Geist und seine spezifische Bestimmung eingegangen, Wenn Geist-Sein breiter zu denken ist als Intellekt-Sein, ohne daß jedoch der Bereich des Geistigen verlassen wird, dann bleibt nur, und genau dies hat Ficino getan, die intentionale, spontane Dimension hinzuzunehmen und d.h. Freiheit, Wille und Handeln. Der Geist in diesem Sinne synthetisiert also theoretische und praktische Seite der menschlichen Wirklichkeit. Im Vortrag wurde dann versucht, die diesbezüglichen Implikationen etwas genauer herauszustellen. Dabei mußte natürlich auch der geistesgeschichtliche Kontext, d.h. zum einen die intensive Auseinandersetzung mit Platon und Plotin, zum anderen die zeitgenössischen vergleichbaren Ansätze, etwa der »mens«- Begriff des Nikolaus von Kues, berücksichtigt werden.
Deutlich werden sollte, daß die spezifischen Bestimmungen von Selbstreflexion, Spontaneität und Intentionalität durchgehend vor dem Horizont eines bestimmten Begriffes von Unendlichkeit ausgelegt wurden, die dem Geist, gerade auch dem menschlichen Geist zugesprochen wurde. Der menschliche Geist ist »mens infinita« nicht im extensionalen Sinne und auch nicht im Sinne einer actu unendlich bestimmten Intensionalität, sondern im Sinne einer unendlichen Kraft, »vis infinita«, eines unbegrenzten Potentiales zur Realisierung seiner spezifischen Möglichkeiten: un-begrenzbare Reflexion auf die Wirklichkeit des Seienden, Darstellung dieser Wirklichkeit im Begriff (Kosmologie) und unerschöpfbare Intenion auf Realisierung von Vorstellungen oder Konzepten durch Handeln nach außen (Ethik, Staat, Handwerk-Kunst [Techne, ars]).
Erst vor diesem Hintergrund, so die These, kann die immer wieder zitierte Position des Menschen in der »Mitte der Welt«, seine dort ihm zukommende Funktion als »Band«, »Verknüpfung« oder »Seele« der Welt und aller Dinge zureichend verstanden werden. Alles verknüpfende Mitte des Seins ist der Mensch als Geist-Wesen und in der unablässigen Kultivierung und Aus-Übung seiner genannten zentralen mentalen Grundoperationen. Das seit Burckhardt mythisierte und auf einen prä-idealistischen Begriff von sich selbst inszenierender Subjektivität zurechtgelegte Bild des »Renaissancemenschen« gewinnt eine andere, wenn auch nicht ganz andere Bedeutung, wenn man es vor dem Hintergrund der intensiven Reflexion der Renaissanceautoren selbst auf das, was für sie Menschsein heißen konnte, zu verstehen versucht.