In meinem Vortrag habe ich zunächst die Frage behandelt, was es bedeutet, wenn der Apostel Paulus in Röm 3,25 zum Ausdruck bringt, dass das jüdische Versöhnungsfest (Yom Kippur) durch den Tod Jesu seine theologische Bedeutung verloren hat. Vom Eintritt Jesu als des Hohenpriesters in das nicht mit Händen gebaute Allerheiligste, wie der Hebräerbrief weiter vertieft hat, öffnet sich die Heilsperspektive auf die gesamte Menschheit hin. (Vgl. Hebr 9,11f.) Die Frage, ob es ein Heil für die nicht an Jesus glaubenden Juden gibt, behandelt Paulus in Röm 9-11. In Röm 11,26f. vertritt er die These, dass bei der Ankunft des Retters aus Sion »ganz Israel gerettet wird«. Selbst wenn die überwiegende Auslegung dafür eintritt, dass Paulus damit den wiederkommenden Messias-Jesus meint, vermeidet der Apostel jedenfalls die eindeutige Festlegung. Auf keinen Fall aber spricht Paulus der christlichen Kirche eine missionarische Funktion zu. Am Ende wird die Reihenfolge des Ungehorsams bei Juden und Heiden durch Gottes Erbarmen über Juden und Heiden überboten. (Röm 11,32)
Nachdem Papst Benedikt XVI. vor dem Treffen in Obermarchtal für den außerordentlichen Ritus (»Tridentinische Messe«) eine neue Karfreitagsfürbitte in Kraft setzte, die erhebliche Irritationen hervorrief, ging ich im größeren Teil meines Vortrags auf die Interpretation des neuen Textes im Vergleich zu seinen Vorgängertexten ein. Er lautet in meiner Übersetzung: »Lasst uns beten auch für die Juden, dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als den Heiland aller Menschen erkennen. – Allmächtiger, ewiger Gott, der du willst, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen, gewähre gnädig, dass, indem [während, in der Zeit, da] die Heidenvölker in deine Kirche eintreten, ganz Israel gerettet werde: Durch Christus unsern Herrn. Amen.«
Der Text stellt eine nochmalige Neugestaltung der Texte von 1965 und 1970 dar. Dies zeigt sich bereits in der Gebetseinleitung. Daran entzündete sich die Kritik in besonderer Weise. Hier ist vor allem wichtig, wie das lateinische Wortfeld agnoscere und agnitio zu verstehen ist. M.E. besteht das Gebetsanliegen nicht darin, dass die Juden an Jesus glauben sollen, sondern dass sich ihnen sein Mysterium als Retter aller Menschen intellektuell erschließt. Die Oration selbst ist eine völlige Neugestaltung. Die erste Überraschung besteht darin, dass der Text theozentrisch beginnt und bleibt. Es ist der eine Gott, der zugunsten der einen Menschheit handelt, indem der (jüdische) Mensch Christus Jesus zum Lösegeld für alle wird (Vgl. 1 Tim 2,5). Hier kommt zum Ausdruck, dass das Christentum zur Zeit der Abfassung dieses Briefes bereits ganz und gar auf dem Weg ist, zur Völkerkirche zu werden und sich auch mit der Intellektualität jener Zeit auseinander zu setzen hatte. Der zweite Teil ist eine interpretierende Übernahme von Röm 11,25.26, geht aber über den paulinischen Text hinaus und nimmt eine Ergänzung vor: Das Eintreten in die Kirche betrifft die Heidenvölker, nicht die Juden. Für mich ist deshalb besonders wichtig: Die Oration von 2008 ist das erste offizielle Gebet der katholischen Kirche, in dem von der Rettung ganz Israels gesprochen wird, und zwar nicht nur rückblickend auf das vorchristliche Israel, sondern auf das Israel aller Zeiten.
Meine in Obermarchtal vorgetragene Interpretation liegt inzwischen veröffentlicht vor. (Vgl. Die Karfreitagsfürbitte für die Juden als Indikator des Grundverhältnisses von Juden und Christen. In: W. Homolka/E. Zenger, Hg., »… damit sie Jesus Christus erkennen. Die neue Karfreitagsfürbitte für die Juden. Freiburg i. Br. 2008, 191-204.) Ich sehe keinen Widerspruch zur Erklärung des Gesprächskreises »Juden und Christen« beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dem ich angehöre, und in der es heißt: »Jesus Christus ist nach christlichem Bekenntnis das ‚Ja und Amen (2 Kor 1,20) der unwiderruflichen Treue Gottes zu Israel und der ganzen Welt. Dennoch gibt es – um der Treue desselben Gottes willen – ein Heil für Israel ohne Glauben an Jesus Christus.« (Juden und Christen in Deutschland. Bonn 2007, S. 20)