Der Vortrag bezog sich auf den Schwerpunkt Städtebau. Ein weiterer Vortrag mit dem Schwerpunkt kirchlicher und sozialer Bauwerke wird evtl. noch folgen.

Theodor Fischer gehört zu den wichtigsten Vertretern der Generation von Architekten im Übergang zwischen Historismus und neuer Sachlichkeit, zumindest für den süddeutschen Raum. Dennoch ist er auch heute wenig bekannt, selbst in Fachkreisen. Sogar die Ulmer Garnisonkirche, der erste Sakralbau in Deutschland mit der Verwendung von Sichtbeton im Inneren, ebaut 1906, findet in der Architekturgeschichtsschreibung selten Erwähnung. Dabei war sogar Le Corbusier bei seiner Deutschlandreise auf das Bauwerk aufmerksam geworden und begeisterte sich dafür. Vor zwei Jahren wurde Fischers 150. Geburtstag an der TU München gewürdigt und war Anlass zu neuen Publikationen.

Da aber Fischer, vor allem im Städtebau, neben der pragmatischen Hinwendung zu Gegenwartsbedürfnissen und Zukunftsaufgaben ein Eingehen auf Geschichte, Region und Ort forderte, wirkt er im Verhältnis zu den radikalen Theorien des Städtebaus des 20. Jhd. (Le Corbusier, Ludwig Hilberseimer u.a.)  wieder relativ konservativ und weniger spektakulär. Sein grundlegender Einfluss und sein weit reichendes Wirken für die städtebauliche Entwicklung nicht nur Münchens und Stuttgarts sondern auch über 20 süddeutscher Städte ist dennoch überaus hoch einzuschätzen. Neben dem bedeutenden Stadtplaner gibt es Fischer aber auch als wichtigen Architekten mit über 100 ausgeführten Bauten, den Schöpfer sakraler und profaner Raumkunstwerke , den handwerklichen Baumeister mit sorgfältiger Detailgestaltung, den Planer innovativen sozialen Wohn- und Siedlungsbaus, den Theoretiker für Proportionsstudien und schließlich den einflussreichen Lehrer wichtiger Vertreter nachfolgender Generationen von Architekten, sowohl solcher mit konservativer wie auch mit sehr fortschrittlicher Ausrichtung, die sich jeweilig auf ihn berufen.

Seine wichtigsten Stationen waren die des Leiters des neu gegründeten Münchner Stadterweiterungsamtes 1893 - 1901 und sein Wirken als Professor in Stuttgart 1901 - 1908 und in München 1909 - 1929. Er war der erste Vorsitzende des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes. Geradezu symbolisch (W. Nerdinger) lebte Fischer genauso lange im 19. wie im 20. Jahrhundert.

Zu den wichtigsten Prinzipien, die sein Schaffen verkörpern, gehören folgende:

  • Die Architektur wird aus städtebaulichen Bindungen und regionalen Bautraditionen, aber den modernen Bedürfnissen entsprechend entwickelt (ein vordergründig traditionell wirkender Heimatstil mit zeitgemäß sozialen Funktionen sozusagen als Volksausgabe des artifizielleren und oft abgehobenen Jugendstils)
  • Die Gestaltung städtebaulicher Räume und die Führung von Straßen und Plätzen erfolgt in Anlehnung an die Theorien Camillo Sittes, des sog. künstlerischen Städtebaus. (Den Begriff „malerisch“ lehnt Fischer jedoch als zu oberflächlich ab.) Damit löst er sich von der akademischen Städtebautradition des späten 19. Jhd. mit ihren oft willkürlichen, aber starren geometrischen Grundmustern.
  • Die Zusammenführung der Künste am Bau und die integrative Betrachtung von Form, Funktion und Material nimmt bereits Anliegen des Bauhauses vorweg. (Die Fassadenbehandlung z.B. mit einfach geschlämmtem Ziegelmauerwerk oder einfach gegliederten Putzstrukturen als sparsame und materialgerechte Alternative zu traditionell historisierenden Fassaden mit aufwändiger Natursteinverkleidung)

Th. Fischer, aufgewachsen in Schweinfurt mit bürgerlich-protestantischem Arbeitsethos und humanistischer Bildung erfuhr eine traditionelle Architektenausbildung bei Friedrich Thiersch in München, die er aber vor Examensabschluss verließ. Durch Reisen, u. a. nach Italien, bildete er sich selbst fort, studierte römische Bauwerke, antike Stadtanlagen (Priene) und mittelalterliche Altstädte in seiner süddeutschen Heimat z. B. Augsburg, Lauingen oder  Burghausen. In München war er in Zusammenarbeit mit Gabriel von Seidl (Nationalmuseum) zunächst noch dem Historismus verpflichtet, erhielt aber den entscheidenden Anstoß zu einer Wende durch die Auseinandersetzung mit Camillo Sittes 1889 erschienenem Werk „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“. Die darin enthaltene Kritik an der im Historismus beliebten Freilegung mittelalterlicher Dome und Kirchen, wie z. B. bei Notre Dame in Paris, greift er sofort auf und will sie für München nutzbar machen.

Um die Bedeutung Fischers als Stadtplaner zu Beginn des 20. Jdh. würdigen zu können, muss man sich die Entwicklung des Städtebaus im 19. Jhd. in Europa und den USA vergegenwärtigen. Die großen Städte, vor allem in Amerika besitzen das Muster des rechtwinkligen Straßennetzes, durchzogen von großen Diagonalachsen, wie dies in der demokratisch umgeformten Tradition des feudalen Städtebaus des 18. Jhd.  mit seinen zentralen Sichtachsen erfolgt, jetzt nicht mehr auf ein Fürstenschloss ausgerichtet (wie z.B. in Karlsruhe) sondern auf den Sitz republikanischer Staatsgewalt, das Kapitol (siehe Washington). Das ungehemmte Wachstum durch die industrielle Entwicklung in Europa erfordert großflächige Stadterweiterungen, die in einer zusehens unreflektiert übernommenen, quasibarock oder klassizistisch verstandenen Tradition von geometrischen Grundmustern erfolgen, die oft willkürlich und gekünstelt wirken. Dabei entspricht dies gar nicht mehr der Intention der im Übergang vom Klassizismus zur Romantik entdeckten Unregelmäßigkeit von traditionellen Stadtbildern (siehe Klenzes Darstellung der Piazza Contarena in Udine von 1850, wo die scheinbare Zufälligkeit der unregelmäßig zueinander stehenden Gebäude zum Ideal einer romantischen Stadtbildauffassung gerät oder der Prospekt der Ludwigstraße in München mit der asymmetrisch seitlich angeordneten Ludwigskirche).

„Der wahre Götze aber unseres modernen Kunstempfindens ist unter der Herrschaft des Klassizismus [gemeint ist wohl eher „Klassik“ im Sinne des Barock des 18. Jhd.] die Symmetrie geworden; bei vielen Leuten ist sie sogar das einzige Kriterium für ästhetische Wirkung, und dadurch ist vielleicht die Anmaßlichkeit zum Teil zu erklären, mit der heute oft über Kunstwerke geurteilt wird; denn die Symmetrie kann jeder kontrollieren. Und doch, wie staunen wir, dass die Griechen den Begriff der Symmetrie in dem Sinne der Gleichheit in Bezug auf die Mittelachse ganz vernachlässigt haben. Ja das Wort hatte für Sie eine ganz andere Bedeutung, als wir ihm heute willkürlich unterlegen. Der alte wahre Begriff der „Maßgerechtigkeit“ ist uns fast abhanden gekommen“, so schreibt Fischer 1901 in einem Aufsatz über „Städtebau“.
Diese Kritik bezieht sich auch auf Erweiterungsplanungen für Münchner Stadtteile, die Fischer bei seinem Antritt im Stadterweiterungsamt vorfand und die er durch direktes Einzeichnen seiner neuen Vorstellungen korrigierte.

Auf diese Weise schuf er die heute so selbstverständlich wirkenden Planungen für viele Stadtteile in München, deren „Geplant-sein“ man gar nicht mehr bewusst wahrnimmt. Leicht geschwungene Straßenverläufe und asymmetrisch sich aufweitende Plätze wirken auf den heutigen Betrachter irgendwie natürlich, wie immer schon dagewesen. Dabei wollte er aber nie eine Unregelmäßigkeit als willkürlichen und gestalterischen Selbstzweck realisieren, da sein „wichtigster Glaubenssatz“ war, dass die Gestaltung „den festesten Grund in den wirtschaftlichen, technischen und landschaftlichen Gegebenheiten haben muss“ und für ihn gilt: „Der Anschluss an die örtlichen Voraussetzungen des Gebäudes und der Überlieferung verhütet Schematismus, sowohl den der Regelmäßigkeit als den der Unregelmäßigkeit, der noch viel schlimmer ist als jene.“

Doch was sind die von Fischer gesuchten, natürlichen Grundlagen? „Die Jahrhunderte  haben unserem Boden Linien und Runzeln aller Art eingegraben, die ehrwürdig sein sollen. Was erzählt ein alter Feldweg, was erzählt der Verlauf der Grundstücks- und Gemarkungsgrenzen...? Das alles soll gleichgemacht, nivelliert werden? Der alte Boden, der die Geschichte so vieler Geschlechter getragen und ertragen hat, soll mit einem Schlag, mit einem Federzug irgendeines Beamten neu und unberührt gemacht werden, damit der Geometer leichte Arbeit hat...“

Doch nicht nur das Vorhandene sollte aufgegriffen werden, sondern auch für das Neue forderte Fischer Gestaltungsprinzipien. z.B. eine „Gliederung der Massen nach Herrschendem und Beherrschtem“. Es sollte auch eine „Steigerung des Charakteristischen“ erfolgen, d.h. eine Höhenentwicklung z.B. muss durch höhere Gebäude noch gesteigert werden, um Rhythmus und Gliederung im Städtebau zu erreichen. Plätze und Blickachsen müssen immer mit Platzwänden und Blickpunkten geschlossen werden. Straßenzüge erhalten bei Plätzen oft eine Achsenverschwenkung wie z.B. beim Prinzregentenplatz in München. Isolierte Bauwerke standen für ihn herum wie „Kommoden beim Ausverkauf“, wie er hier C. Sitte zitiert. Die Straße als „räumliches Produkt aufzufassen“ war für ihn die „Quintessenz aller Stadtbaukunst“.

Ein Markstein in der Stadtentwicklung war die Erarbeitung einer „Staffelbauordnung“ für München, mit dessen Hilfe durch Baulinien und unterschiedlich gestaffelten Baudichten mit dezentralen Zentrumsbildungen in den Stadtteilen die Stadtentwicklung flexibel, aber insgesamt doch gestalterisch geregelt wurde, ein damals neuartiges und bis 1970 gültiges und gut funktionierendes Gesamtkonzept, das die Stadt vor manchen Fehlentwicklungen bewahrt hat, vor allem in der Nachkriegszeit.

In seiner Stuttgarter Zeit hat er u. a. die Zentrumsplanung mit dem neuen Kunstvereinsgebäude am Schlossplatz maßgeblich mit beeinflusst und in Gmindersdorf bei Reutlingen eine interessante Arbeitersiedlung für eine dortige Textilfabrik errichtet. Hier wird Fischers Verständnis für die umfassende und gestalterisch-funktionale Aufgabe des Architektenberufs deutlich, indem er vom Städtebau bis zur Zimmereinrichtung alles liebevoll durchplant und der Siedlung mit allen sozialen Einrichtungen ein eigenes Gepräge gibt, das den Bewohnern auch eine starke Identifikation mit ihrem Ort ermöglicht. In seiner zweiten Münchner Zeit realisierte er feinfühlige Wohnanlagen in Laim und 1919 die Siedlung „Alte Heide“ in Freimann, die Prinzipien des modernen Zeilenbaus dieser Zeit aufgreift, ohne aber in einen seelenlosen Schematismus zu verfallen. 1927 baute er das überraschend modern wirkende „Ledigenheim“ im Münchner Westend.

Fischer stand in kritischem Briefwechsel mit dem konservativeren Paul Bonatz, wehrte sich gegen falsch verstandene deutschtümelnde Einvernahme durch die erstarkenden reaktionären Kräfte am Vorabend des Nationalsozialismus. Er starb 1938, nur von engen Freunden umgeben.

Theodor Fischers Wirken für die Weiterentwicklung der Moderne ist anhand seiner Schüler bzw. Mitarbeiter Bruno Taut (Hufeisensiedlung Berlin) und Ernst May (Römerstadt Frankfurt) am besten zu ermessen. In deren Werken zeigt sich, dass das „Neue Bauen“ in Deutschland der Weimarer Republik sich sehr wohl mit dem sensiblen Gestalten städtischer Räume im menschlichen Maßstab verbunden hat und die pauschale Kritik an radikalen Ideen des Städtebaus des 20. Jhd. jene Ergebnisse nicht treffen kann.