Helm aus Phlox. Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs ist eine vielfärbige Sammlung von zwanzig Beiträgen zu Fragen der Literatur, der Poetik und vor allem der poetischen Praxis. Das Buch ist aus einem Blog entstanden. Auch in der Ausarbeitung zu Buchkapiteln schlägt dieser Anfang durch. Das Interesse an Fragen der Poetik, das die Blogger und dann die Buchautoren — Ann Cotten, Daniel Falb, Hendrik Jackson, Steffen Popp und Monika Rinck — bewegt, ufert aus, verwildert in nahe und ferne Bereiche der literarischen Tradition, der Philosophie, Religion, Soziologie, der Mathematik und Naturwissenschaften, der Politik, Psychologie ... und in ein Gestrüpp von Anmerkungen und Literaturverweisen. Die Ausführungen sind argumentativ, essayistisch, assoziativ, immer aber pointiert literarisch geschrieben, oft in Sätzen, aus denen weitere umstandslos hervorkommen. Aus dieser Arbeitsweise vom Blog zum Buch resultiert die verwirrende Fülle, die Verweisungsdichte und der Zusammenstand von Themen, Stoffen und Schreibweisen. (Was dem aufmerksamen, geduldigen Leser des Helms geschieht, haben wir nicht besprochen.) In der Vorrede versichern die Verfasser, daß das Buch kein ‘Metatext zu poetischen Texten᾿ sei, denn die Regeln, die ihre poetische Arbeit bestimmten, leuchteten nur innerhalb der resultierenden Texte ein, ließe sich aber nicht zu einer Lehre extrapolieren. (Wer wollte widersprechen?) Die Folgerung, die sie aus diesem Sachverhalt ziehen, läßt einen stutzen: „Dieses Buch ist also [...] ein Text unter Texten“, bis man, nach einem hinterhältigen Gedankenstrich, weiter liest, „ein Text unter Texten — der eben die Textarbeit zum Thema hat.“ Ob ein Text, der eben die Textarbeit zum Thema hat, einfachhin ein Text unter Texten sein kann, sei dahingestellt. (Gleichmacherei aus Angst vor der Regelpoetik?) Uns gab er Hinweise, einige Resultate der Textarbeit besser zu lesen: „[...] Gedichte eine Art von komplexen Begriffen, genauer, Begriffsbildungen über Komplexen, denen man mit einfachen Signifikanten nicht beikommt“ (Phlox 272).

Im folgenden nenne ich die Hauptpunkte des Vortrags und der gemeinsamen Lektüre.
1. Die Eigenart der Lyrik. Sie ist Non-Fiction (Phlox 15ff; 266ff passim).
Diskursives, Nachdenken und Reden über etwas, Dokumentation, Beschreibung und Schilderung – kommen sie vor – sind (nur) Momente des Gedichts. Wie Erzählerisches ein Moment ist, wurde an Steffen Popps Sammelstelle für Sekundärrohstoffe (aus Dickicht mit Reden und Augen, Abteilung Narrativ) abgelesen.
2. Der semantisch-referenzielle Charakter der Sprache wird in der Lyrik transformiert.
Worte und Sätze haben bereits einen Sinn und bedeuten etwas, wenn sie zu einem lyrischen Text gebraucht werden. Genauer gesagt, sie haben einen Sinn- und Bedeutungsraum, ein Potential, das im Prozeß der jeweiligen Sprachverwendung realisiert wird. Worte und Sätze sind nicht etwa leer (leere Schemata). Ihr Möglichkeitsraum wird im Sprechen (im ‘kreativen Sprachgebrauch᾿) anders und weiterhin realisiert und gerade im Prozeß des Dichtens und im lyrischen Text und seiner „Mischung von Evokation und Proposition“ (Phlox 262; 258) in einer neuen, unvorhersehbaren Weise aktualisiert. Die Worte und Sätze solcher Aktualisierung interessieren folglich nicht nur als Zeichen, die auf etwas verweisen und zurückgelassen werden, wenn sie diesen Dienst getan haben. Sie verstricken den Leser in den „wachsenden Wald der Bedeutungen“ (Phlox 201). Die vielen Züge eines lyrischen Texts bilden einen Nexus (im whiteheadschen Sinne) und evozieren ‘gedichttypische Hyperräume und inhomogene schwankende Felder᾿ (Phlox 258). Lyrik bleibt nicht bei den Vorstellungen und Bedeutungen, welche die Sprache schon mit sich führt. Sie ist aus auf ‘Komplexe, denen man mit einfachen Signifikanten nicht beikommt᾿ (Phlox 272).
3. Semantisch entlasteter Text und schwebende Bedeutung
Die Spannung zwischen dem gängigen Sprachgebrauch und einer neuen Aktualisierung aus dem Möglichkeitsraum, der Widerspruch, der Kollaps und die Transformation, die Vorstellungen und Bedeutungen im Nexus des Gedichts durchmachen, sind Grund für Lust und Verlegenheit, in die wir beim Lesen und Hören geraten. Dieser (fast triviale) Sachverhalt wurde in einem gemeinsamen Interpretationsgang vor Augen geführt: an einem semantisch entlasteten Text – Hugo Balls Karawane (1917) – und an einem Text schwebender Semantik – Hans Arps kaspar ist tot (Fassung von 1953).
„Komplexe Texte – das hat nichts mit der Art von Verkomplizierung zu tun, die Qualität durch Unverständlichkeit vorzutäuschen sucht [...]. Das unaufdringlich Komplexe, das jedes Gedicht untergründig oder auch sichtbar ausmacht, erlaubt es, sich leichtfüßig durch den wachsenden Wald der Bedeutungen zu bewegen“ (Phlox 201).
Was man im Interpretationsgang zu leisten hat, ist viel und subtil. Man muß das Gedicht sich selber auslegen lassen, indem man seinem Prozeß wach, aufmerksam, behende folgt. Leicht unterliegt man der Täuschung, der Dichter sage gar nicht, was er meine; er sage etwas in poetischer Sprache, meine aber etwas irgendwie Ähnliches, das er verhülle und das es zu enträtseln gelte. Was das Gedicht bedeutet, möchte man in einer Inhaltsangabe haben. Läßt sich aber, was ein Gedicht sagt, in Prosa sagen, dann kann man es sein lassen. Wie leicht flüchtet der Leser ins Metaphorische. Wo eine neue Bedeutung aus dem Möglichkeitsraum der Worte und Sätze sich anzeigt, erklärt man sie zur Metapher und schreibt ihr vor, was sie eigentlich bedeute.
Unser Vorgehen bestand darin, dem Gedicht aufmerksam und behend zu folgen, nicht über es zu reden, möglichst nichts hinzu zu fügen, keine neuen Wörter, nichts weg zu lassen, so als sei es ein Füllsel (das lyrische Redundanzverbot!) und ohne Zuflucht zu einer Inhaltsangabe zu nehmen, die eigentlich sagt, was es verbrämt oder verkompliziert meine.
4. Steffen Popp, Dickicht mit Reden und Augen (aus der gleichnamigen Sammlung, Berlin 2013).
Die gemeinsam Lektüre und Interpretation lassen sich nicht resümieren, nur aufs neue wiederholen.