Für die Beschreibung von Barockarchitektur mit ihren vielfältig ineinandergreifenden Bewegungen halte ich mich zunächst an Hans Sedlmayrs „Gestaltetes Sehen“, das er im gleichnamigen Aufsatz von 1925 an einem Kirchenraum von Francesco Borromini entwickelte. In dem komplizierten Innenraum hebt Sedlmayr – in Anlehnung an Max Wertheimers Gestalttheorie – zwei einfache Konstellationen hervor, die sich überlagern und widersprechen, die man also nur nacheinander und in wechselseitiger Durchdringung auffassen kann. Das bewegte wechselnde Hervortreten von einfachen und unabgeschlossenen Grundformen wurde im modernen Kunstwerk durch Paul Cézanne und durch den Kubismus gestaltet. Gleichzeitig (1912) wurde es in der Kunstgeschichte durch Friedrich Rintelen bei Giottos inhaltlich-dramatischen Figuren-Konstellationen herausgearbeitet. Später hat Max Imdahl dieses aktiv-bewegte Durchdenken des Kunstwerks in unterschiedlichen und sogar antinomischen Strukturen auf fruchtbare Weise weiterentwickelt.

Bei den drei Schloss-Treppenhäusern von Balthasar Neumann – Brühl (1731), Würzburg (1735) und Bruchsal (1740) – wird der hinaufsteigende Betrachter zum Teilnehmer am anschaulich sich eröffnenden Raum. Der gestaltete Raum steht nicht nur als Gebäude materiell vor Augen, sondern er bildet und verwandelt sich im Vorgang des Gehens und Sehens. Die vom Gebauten nahegelegten visuellen Grundgestalten erzeugen wechselnde Raumvorstellungen, die sich gleichsinnig mit der körperlichen Bewegung entwickeln.

Im Treppenhaus von Pommersfelden, das 1713 von dem in Wien tätigen Lukas von Hildebrandt in eine Raumhülle von Johann Dientzenhofer hineinkomponiert wurde, drückt sich der Anstieg vom Erdgeschoss ins Hauptgeschoss nicht durch wechselnde Raumformen aus, sondern durch die Gestaltung der umgebenden vier Wände. Ihnen ist eine Schicht von umlaufenden Galerien vorgelegt, die einen wechselnden Bezug zur Raumgrenze herstellen: horizontal umschließend, offene Säulenstellungen ohne Flächenbezug, vertikaler Anschluss an das abschließende Muldengewölbe mit dem Deckenfresko.

In Neumanns Treppenhäusern erfolgt die umschließende Raumbildung dynamisch, das Aufsteigen und Ankommen erfolgt aus dem Gegensatz, dem durchgehenden horizontalen Bewegungsraum des Menschen. Im Schloss sammelt er sich von außen nach innen. Daher liegt in den Schlössern der wichtigste Innenraum dort, wo die von außen kommende Horizontale in eine richtungslose Raumform einmündet, im Treppenhaus, das von oben her – von einem Kuppelgewölbe mit Fresko – übergriffen wird. Im Gegensatz zu Neumanns sakralen Innenräumen nähert sich die umschließende Raumgestalt nicht einem idealen immateriellen Inneren, sondern bleibt materieller, betretbarer Bewegungsraum des Betrachters. Seine Bezüge zur Axialität und zum Außenraum werden auch in dieser Umschließung bewahrt. Neumanns Architektur leitet zur Erfahrung eines unendlichen Raums weiter, der nicht als absolute Ordnung, sondern als übermaterielle Dynamik aufgefasst wird. Es ist eine Unendlichkeit, eine Raum-Ordnung, die sich aus dem sinnlich Erfahrbaren als dessen Erweiterung ausbreitet.