Hermann Lenz‘ Roman „Andere Tage“, erschienen 1968, erzählt vom Alltag, dem Verhalten und der Entwicklung Eugen Rapps, seiner Eltern und Schwester, Lehrer, Kommilitonen und Hochschullehrer in den letzten Jahren der Weimarer Republik und den ersten Jahren unter der NS-Diktatur. Trotz meiner Sorge, vielleicht nur schwer Interesse an diesem Roman vermitteln zu können, da in ihm nichts wirklich Aufregendes, Spektakuläres geschieht, weder im Verlauf der äußeren noch der inneren Handlung, habe ich ihn als Vortragsgegenstand gewählt, da die Darstellung des Lebensgefühls, der Beobachtungen und des Verhaltens eines jungen Menschen, der sich schon als Kind in seinem Alltag nirgends dazugehörig fühlt, manche Leser berühren und darauf gespannt sein lassen wird, wie dieser Mensch im Leben „durchkommt“ und sich gegen den „Zeitgeist“ behauptet, ohne zu verzweifeln.

„Andere Tage“ ist der zweite der neun autobiographischen Romane (s. Auswahlbibliographie u.) von Hermann Lenz (1913 - 1998), die im Zentrum seines umfangreichen Prosawerks stehen und in denen der Autor Erinnerungen an sein Leben und das seiner Vorfahren in Erzählungen von seinem Alter Ego Eugen Rapp umkreist. Der Romanzyklus, veröffentlicht zwischen 1966 und 1997, umfasst ein ganzes Jahrhundert. Im Nachkriegsdeutschland war Hermann Lenz lange ein Außenseiter, das änderte sich 1973 fast schlagartig durch einen ganzseitigen Aufsatz Peter Handkes in der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Tage wie ausgeblasene Eier. Einladung, Hermann Lenz zu lesen.“ Durch Handkes Empfehlung konnte Lenz nun seine Werke im Suhrkamp- bzw. Insel-Verlag veröffentlichen; er erhielt später eine Reihe von Auszeichnungen, die bedeutendste war der Büchner-Preis 1978. Handke lobt den völlig ungekünstelten Erzählton von Hermann Lenz, der ihm beim Lesen von „Die Augen eines Dieners“ „den Zustand einer wachsenden Ungestörtheit, der aber nicht von außen kam, sondern von dem Buch erst erzeugt wurde“ vermittelte – eine Erfahrung, die er auch bei der Lektüre der anderen Prosatexte von Lenz machte. Später sagt Handke, dass Hermann Lenz für ihn erst „richtig groß“ als Epiker einsetze mit seinen autobiographischen Romanen, deren „epische Energie“ den Leser mitnehme und ihm auch eine Art „poetischen Geschichtsunterricht“ vermittele.

Zu schreiben war für Hermann Lenz‘ Leben und Überleben essentiell, er begann schon als Jugendlicher damit. ln dem Roman „Ein Fremdling“ (1983) lässt er sein Alter Ego sagen: „Er […] wußte, daß er ohne zu schreiben die Schutzschicht verloren […] hätte“ und in „Herbstlicht“ (1992): „Erst durchs Aufschreiben mildert sich, was dir begegnet, ins Erträgliche.“, Figurenreden, die wir sicherlich auf den Autor beziehen dürfen.

Der Roman beginnt und endet im Stuttgarter Elternhaus von Romanfigur und Autor, setzt Ende der zwanziger Jahre ein und schließt im Juli 1936. Im ersten Viertel des Romans wird Eugen als mittelmäßiger Schüler beschrieben, der meist einen geistesabwesenden, verträumten Eindruck macht, Mörike verehrt, aber in Familie und Freundeskreis immer deutlich macht, dass er Gegner des Militarismus und der aufkommenden NSDAP ist, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, einem Gymnasiallehrer. 1931 nimmt Eugen Rapp das Theologiestudium in Tübingen auf, fällt aber zwei Jahre später durch die Sprachprüfungen. Er kann durchsetzen, dass er daraufhin in München Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik studieren darf, ab 1935 studiert er dann in Heidelberg. In Tübingen tritt er auf Geheiß des Vaters widerwillig in eine Verbindung ein, da er finanziell von ihm abhängig ist, in München dann aus demselben Grund in die SA, nach einer krankheitsbedingten Unterbrechung des Studiums dann aus, eine Befreiung für ihn und eine große Sorge für die Eltern, da ihr Sohn nun „nirgends dabei“ ist. Der Vater tritt schon vor 1933 in die NSDAP ein, verheimlicht das aber zunächst vor seiner Familie und seinen Kollegen. Die politischen Differenzen zwischen Vater und Sohn sowie den Eltern belasten zunehmend das Familienklima. Als Student hält sich Eugen Rapp soweit wie möglich vom Universitätsbetrieb und studentischen Veranstaltungen fern, er schreibt mehr, als dass er ernsthaft studiert. Er sieht keinen Sinn darin, ein Examen abzulegen, da er überzeugt davon ist, dass sowieso ein Krieg kommt. In Begegnungen mit Kommilitonen ist er vorsichtig, er will keinen Kontakt mit Hitler-Anhängern, aber auch die Konfrontation mit ihnen vermeiden. Er beobachtet das opportunistische Verhalten einiger Hochschullehrer, private Kontakte hat er zu einigen Professoren und Studenten, die gegen das NS-Regime eingestellt sind. Der Roman endet mit zwei Todesnachrichten: dem erwarteten Tod der Großmutter väterlicherseits und dem Selbstmord einer früheren Schulfreundin der Schwester, Eva Maurer, einer großbürgerlichen Kreisen entstammenden Regimegegnerin, Spiegel- und Gegenfigur zu Eugen Rapp.

Erzählt wird „Andere Tage“ überwiegend aus der Perspektive von Eugens „robusterer“ jüngerer Schwester, erst gegen Ende zunehmend aus der Sicht des Protagonisten selbst. Lebensnähe und Authentizität erhält der Roman durch Worte und Wendungen der schwäbischen Mundart in Figurenreden; oft zu konstruiert wirkt hingegen die Darstellung aus der Perspektive der Schwester, vom Autor gewählt, „um Distanz zu gewinnen“.

Der Roman wird nicht kontinuierlich-chronologisch erzählt, das äußere und innere Leben der Hauptfigur bestimmende Impressionen werden aneinander gefügt, so wie die Erinnerung sie hervorruft, ein Kompositionsprinzip, das alle autobiographischen Romane von Hermann Lenz kennzeichnet.

Im umfangreichsten Teil des Vortrags wurde an ausgewählten Textbeispielen aufgezeigt, dass und wie Hermann Lenz sich als „Meister der Ambivalenz“ erweist. Schon zu Beginn des Romans werden die Gegensätze in der Familie aufgezeigt: zwischen den Geschwistern Eugen und Margret Rapp sowie zwischen den Eltern, dem eher lauten, fröhlichen und genussfreudigen Vater, der militärischen Schneid liebt, und der Mutter, einer leisen, vorsichtigen und pflichtbewussten Person. Mit dem Romananfang werden zwei Leitmotive eingeführt, das „Elegante“ und der „Tod“ – der Eugen für die Juden und für sich selbst im erwarteten Krieg unausweichlich scheint. „Eleganz“ markiert für ihn den Abstand zum Gewöhnlichen, weshalb er sich als Student in der Öffentlichkeit aus Protest gegen die „abortfarbenen Uniformen“. immer sorgfältig und elegant kleidet.

Der Vater des Protagonisten wird auf der einen Seite als jemand gezeigt, der starken Anpassungsdruck auf seinen Sohn ausübt, seine Enttäuschung über den „Demokraten“ und lommeligen Kerl“ immer wieder zum Ausdruck bringt, ihn andererseits aber gelten lässt, auch nach seinem Austritt aus der SA.

Eugen Rapps Gegnerschaft zum Nationalsozialismus ist sowohl Konsequenz seines „Nebendraußen“-Stehens, seines feinen Gespürs, wie auch seiner grundsätzlichen Haltung gegen dessen menschenverachtende, kriegstreiberische Politik, die drohende Vertreibung und Vernichtung der Juden, politischer Gegner und anderer Unangepasster. Sein politisches Ideal verkörpert Brüning, da ihn Auftreten und Habitus dieses Politikers überzeugen. Eugen Rapp zieht sich innerlich zunehmend zurück, erstarrt fast vor Angst, findet sich nur im Schreiben: eines Tagebuchs, von Gedichten und Erzählungen, die er z.T. in einem fiktiven Wien spielen lässt, „damit du vom Krieg und vom starken Deutschland wegkommst“. Er mag nicht aggressiv schreiben, wie es der Schriftsteller Bitter (d.i. Georg von der Vring) von ihm wünscht, ohne seine „Fühlhörner“ würde er innerlich sterben.

Dem versucht er auch immer wieder zu entgehen, indem sich sein Blick aus der Bedrückung und Enge erhebt, über die Dächer der Stadt und die Landschaft, er Lichtstimmungen genau wahrnimmt – aber immer gelingen ihm nur kleine Fluchten aus der bedrohlichen Realität.

Eugen Rapp kann in der Zeit, in der er leben muss, bestehen, indem er immer wieder reflektiert, was er erlebt, und darum bemüht ist, herauszufinden, was ihm „gemäß“ ist: es entspräche nicht seinem Temperament, als Gegner des Regimes aktiv zu werden, diese Passivität , auch das Kreisen um das eigene Erleben und die eigene Befindlichkeit mögen als eine Schwäche des Protagonisten erscheinen – aber der kompromittiert sich nie, und das ist ein Zeichen seiner Stärke, die sich seiner Außenseiterposition verdankt, denn nur aus ihr heraus kann er seine Zeit so genau beobachten und sensibilisiert mit seinen Beobachtungen des gesellschaftlichen und politischen Lebens auch seine politisch eher gleichgültige Schwester. Eugen Rapp wird als eine ambivalente Figur gezeigt, die ich eindrucksvoll dargestellt finde in ihrer konsequenten Widerständigkeit gegen das System.

„Kein anderer deutschsprachiger Autor hat die Nazi-Jahre und alles, was sie ausmachte, so unheimlich präzise und gleichzeitig so eigenwillig erinnert wie Hermann Lenz“, schreibt Peter Hamm in seiner Laudatio auf Hermann Lenz aus dem Jahr 1987, er habe diese Jahre nicht als „das Außergewöhnliche“ dargestellt, „sondern begriffen als das Gewöhnliche; diese Jahre waren ja für jene, die damals ihr Leben leben mußten, eben auch beides – und beides unauflöslich ineinander vermengt -: das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche, wahr und falsch, gut und böse, Himmel und Hölle.“

Auswahlbibliographie: Hermann Lenz (1913 – 1998):

Die autobiographischen Romane:

  1. Verlassene Zimmer, Roman, Köln 1966

  2. Andere Tage, Roman, Köln 1968

  3. Neue Zeit, Roman, Frankfurt am Main 1975

  4. Tagebuch vom Überleben und Leben, Roman, Frankfurt am Main 1978

  5. Ein Fremdling, Roman, Frankfurt am Main 1983

  6. Der Wanderer , Roman, Frankfurt am Main 1986

  7. Seltsamer Abschied, Roman, Frankfurt am Main 1988

  8. Herbstlicht, Roman, Frankfurt am Main 1992

  9. Freunde, Roman, Frankfurt am Main 1997

Weitere Publikationen:

  • Der Kutscher und der Wappenmaler, Roman, Köln 1972

  • Der innere Bezirk, Roman-Trilogie, Frankfurt am Main 1980

  • Erinnerung an Eduard , Erzählung, Frankfurt am Main 1981

  • Leben und Schreiben, Essays, Frankfurt am Main 1986

  • Vielleicht lebst du weiter im Stein, Gedichte, Frankfurt am Main 2003

  • Paul Celan — Hanne und Hermann Lenz, Briefe, Frankfurt am Main 2001

  • Berichterstatter des Tages. Peter Handke – Hermann Lenz, Briefe, Frankfurt am Main 2006

Internet: http://hermann-lenz-stiftung.de/Start_2_0.html