Gegenstand des Referats waren die beiden Binnensätze der „Vier Studien“ – ihrer Gegensätzlichkeit und inneren Verbindung wegen. Die Behandlung der beiden Außensätze war aus Zeitgründen nicht vorgesehen. Nach einführenden Bemerkungen zum Komponisten Wolfgang Rihm und zu den Interpreten des Werks, dem Klarinettisten Jörg Widmann und dem Minguet-Quartett, wurde an zwei Ausschnitten der zweiten Studie Rihms Verfahren gezeigt, an einem schon vorliegenden musikalischen Text (hier dem 12. Streichquartett, entstanden aus „Fetzen 1“ für Streichquartett und den „Fetzen 3“für Akkordeon und Streichquartett) im neuen Werk durch Variantenbildung weiter zu komponieren. Dabei kam u.a. eine in den Vorlagen schon angelegte charakteristische Figurenkette in den Blick, die in dem collageartig zusammengefügten Satz zur formalen Klammer wird.

Das Prinzip permanenter Variantenbildung war auch an den weiteren analytischen Befunden abzulesen: Es erwies sich als Mittel der inneren Verbindung zweier Sätze: der leise Anfang des dritten Stückes der „Studien“ (Andante con moto, ¾) ist Variante eines in das zweite Stück (Molto vivace) eingeschobenen Kontrastabschnitts, der hier einen neuen Sinn und Zusammenhang bekommt.

Auch der dritte Satz der „Studien“ selbst war  -  wenigstens in den beiden A-Teilen seiner dreiteiligen Form (A – B – A‘)  -  als Folge von Varianten ein und desselben musikalischen Modells zu erkennen. Wir bezeichneten es seiner rhythmischen, melodischen, harmonischen, artikulatorischen und formalen Stilmerkmale wegen als „Ländler“. Rihm lässt sein Modell aus dem Kontext jeweils erst allmählich hervortreten, und nie in definitiver Gestalt. Wir konnten deshalb auch nicht von einem Thema und seinen Variationen sprechen: die einzelnen Momente des Stückes unterscheiden sich durch mehr oder weniger deutliche Präsenz einer idealtypischen Gestalt.

Wir hörten u.a. drei Varianten derselben Phrase der Ländler-Melodie, in denen Rihm die Stimmen der beiden Geigen und der Klarinette in „durchbrochener Arbeit“ mit einander verbunden hat, Momente, die exemplarisch die hohe Klangkunst dieses Stückes zeigten, sowohl was die mannigfaltige Verbindung von
Klarinetten- und Streicherklang anbelangt, als auch die Harmonik mit ihren subtilen Anklängen an den spätromantischen Tonsatz.

Der Mittelteil (Allegro ma non troppo) der dritten „Studie“ setzt mit seiner größeren Bewegtheit (und anderer Metrik: 4/4) einen Kontrast zum A-Teil, so wie das auch in der traditionellen Da Capo-Form üblich war. Er tut das mit einem Rückbezug auf das zweite Stück – ein weiteres Moment der inneren Verbindung der beiden Binnensätze der „Vier Studien“: Varianten der im zweiten Stück beobachteten Figurenketten durchziehen den Abschnitt im pp und von den Streichern mit Dämpfer gespielt wie schattenhafte Nachklänge des vorangegangenen Satzes.

Die Wiederkehr des Andante con moto-Tempos (und des ¾-Taktes) beginnt mit dem Nachsatz des Ländlers
(Klangspuren des Vordersatzes waren schon zuvor im Tempo und geraden Takt des Zwischenstücks zu vernehmen). Die Form dieses A‘-Teils ergänzt sich dann nach dem Muster des A-Teils; das Spiel der Varianten des Ländler-Modells wird fortgeführt. Allerdings wirkt die Unruhe des schnelleren Mittelteils in diesem A‘-Teil nach (mit immer wieder den Satz durchziehenden schnellen Figurenketten aus dem bewegten Mittelteil), ein Eindruck, der Rihms Stück für den Hörer noch stärker als zuvor mit der klassisch-romantischen Musik-Tradition in Verbindung bringt (siehe z.B. die Gestaltung der Reprisen in langsamen Sätzen Schuberts!). Der abrupte und verfremdende Schluss stellt solche Nähe wieder in Frage.