Gerhard Wilflinger ist am 25. 7. 2013 gestorben. Die Kurzfassung seines Referats erfolgt in Stichworten nach dem Manuskript:
Ausgangspunkt der Überlegungen ist: die Erinnerung an historische Fakten und wie sie gedeutet und geschichtsmächtig oder verdrängt werden. Beispiele dazu waren die Schlacht auf dem  Amselfeld 1389 (im südwestlichen Balkan, auf serbisch Kosovo Polje, in der das serbische Ritterheer von den Türken vernichtet wurde, und die bis zu den letzten Balkankriegen die Konflikte schürte und auslöste); die historische Fiktion, Mazedonien sei seit Alexander dem Großen „griechisch“ gewesen (Griechenland verhinderte den Staatsnamen Mazedonien in der EU); die Leugnung der Briten, für den Massenselbstmord der Donkosaken in Kärnten 1945 mitverantwortlich gewesen zu sein, und die Leugnung des versuchten Genozids an den Armeniern durch die türkischen Regierungen.
Diese Beispiele zeigen, was alles aus „Fakten“ werden kann, weil sie zu dem gehören, was wir als Geschichten erzählen und weitergeben: sie sind mehrdeutig, von Interessen geprägt, und haben die Funktion, der Welt eine Sinnstruktur zu geben, sie zu einer erzählbaren Welt zu machen, der die Menschen sich zugehörig wissen.
Das historische Bewusstsein gehört zum Menschen. Damit sie aber auch Menschen bleiben,  sollen sie reflektierend Distanz zur den erzählten Geschichten gewinnen.

„Niemals vergessen“ ist eine Parole, die mit hohem moralischem Anspruch einhergeht. Was besagt sie, was sind ihre unreflektierten Auswirkungen? Die These, das Nicht-Vergessen verhindere spätere Konflikte, Verbrechen, Kriege kann sich – so zeigen die Überlegungen - weder auf eine theoretische Begründung noch auf historische Erfahrungen berufen. Das Vergessen kann, im Gegenteil, heilend sein und wird deshalb auch eingefordert. Beispiele u.a. sind die Rede Ciceros nach der Ermordung Cäsars („Alle Erinnerungen an die mörderischen Zwistigkeiten sind durch ewiges Vergessen zu tilgen“) und der Westfälische Friedensschluss 1648 („alle Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Schäden und Untaten sollen gänzlich abgetan sein, dass alles in ewiger Vergessenheit begraben sei“). Nicht appellativ sondern grundsätzlich in Kants Schrift vom Ewigen Frieden: „Dass mit dem Friedensschluss auch die Amnestie verbunden sei, liegt schon im Begriff desselben“.

„Aus der Geschichte lernen“ ist eine oft gestellte Forderung. Sie stellt sich als zwiespältig, ja paradox heraus, denn sie missachtet, dass Geschichte die vergegenwärtigte Vergangenheit ist, nicht das Vergangene selbst. Angesichts der Erfahrungen des 1.Weltkrieges erschien Paul Valery der Gedanke, man könne etwas aus der Geschichte lernen, geradezu „lachhaft“ (Essay „Über die Geschichte“, 1927).

Im abschließenden Teil geht es um die Geschichtspolitik. Alle historischen Begriffe, Theorien, Erzählungen dienen – darauf zielt Geschichtspolitik - auch gegenwärtigen weltanschaulichen, politischen Positionen. Die gegenwärtige Generation schafft sich ihre Geschichte, indem sie auf die Taten der vorangegangenen Generation Bezug nimmt und sie beurteilt.  Sie braucht sie, um ihre eigenen Positionen zu definieren, sie braucht sie für ihre Aktionen und Unterlassungen, für ihr Selbstverständnis, für ihre Identifikationen. Beispielhaft war der deutsche Historikerstreit von 1986 (kein Streit um die Fakten: die wurden von allen gleichermaßen anerkannt; es war ein Streit um die Bedeutung dieser Fakten).
Die Geschichtspolitik erweist sich oft als polarisierend (man denke an die heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bei Projekten wie Museen, Denkmälern). Dass die Geschichtspolitik auch eine integrative Aufgabe hat, zeigte die berühmte Weizsäcker-Rede vom 9. Mai 1945. Der Blick zurück kann das Gemeinsame betonen und zu einem gemeinsamen politischen Handeln führen – zum Beispiel zur europäischen Integration.

Um den Realitätssinn angesichts der Geschichte zu schärfen, erinnert der Vortrag an die Friedensbemühungen zwischen Israelis und Palästinensern, an den Handschlag von Yitzhak Rabin und Yassir Arafat 1993, an die formulierten Rahmenbedingungen damals und an Rabins spätere Ermordung: Für solche mutigen Gesten kann man – so der Vortragende -, unter günstigen Umständen den Friedensnobelpreis erhalten; aber die Chance, bei der nächsten Wahl wiedergewählt zu werden, hat man damit wohl verspielt. Gewiss, es werden sich überzeugte Wähler finden – aber keine Mehrheit.

Auch der letzte Absatz des Vortrags sei hier im Wortlaut wiedergegeben: Wir haben eine Vergangenheit, aber wir geben uns eine Geschichte – das würde ich als Motto oder Kürzestresumée unter mein Referat schreiben. Wir haben eine Vergangenheit, die können wir nicht ändern. Doch wir geben uns, im erinnernden Erzählen, eine Geschichte, und dabei sind wir zu Wahrhaftigkeit und kritischer Vernunft gefordert; zur Distanz ebenso wie zum kommunikativen commitment gegenüber der Geschichte des Anderen.