1. Was ist Klinische Ethikberatung (KEB)?
Klinische Ethikberatung beinhaltet die professionelle Moderation von ethischen Konfliktsituationen. Diese treten in der modernen Medizin vermehrt auf, da in den westlichen Gesellschaften ein Wertepluralismus vorherrscht, die medizinisch-technischen Möglichkeiten zunehmen und ökonomische Faktoren an Bedeutung gewinnen.
2. Einordnung der KEB in die Medizinethik
Klinische Ethikberatung kann als praktische Anwendung der sogenannten Klinischen Ethik aufgefasst werden. Nach der Encyclopedia of Bioethics befasst sich Klinische Ethik mit der Ethik der klinischen Praxis. Sie behandelt ethische Probleme, die in der Patientenversorgung auftreten. Ihre Grundlagen bilden diejenigen Wissenschaften, die auch in der Bioethik von Relevanz sind. Die Bioethik wiederum ist ein Teilbereich der Angewandten Ethik und umfasst die Bereiche Medizinethik, Umweltethik und Tierethik. Allerdings gibt es hier divergierende Auffassungen bzgl. der geeigneten begrifflichen Benennung.
3. Wie findet KEB heute statt?
Es gibt unterschiedliche Modelle der KEB: Sie wird in der Regel durch sog. „Klinische Ethikkomitees“ in Krankenhäusern angeboten. Es kann sowohl das gesamte Komitee die Beratung durchführen, als auch eine Arbeitsgruppe des Klinischen Ethikkomitees oder Einzelpersonen, die sog. „Klinischen Ethikberater“. Entstanden sind die ersten Klinischen Ethikkomitees in Deutschland in den 90er Jahren nach US-amerikanischem Vorbild mit dem Ziel der Verbesserung der klinischen Versorgung des Patienten. 1997 wurde diesbezüglich eine Empfehlung der konfessionellen Krankenhausträger ausgesprochen. Mittlerweile gibt es auch in Pflegeheimen erste Ethikkomitees. Die Mitglieder werden berufen durch die Krankenhausleitung mit einer Amtszeit von 2-3 Jahren. Sie stammen aus verschiedenen im Krankenhaus vertretenen Berufsgruppen wie Ärzten, Pflegenden, Juristen, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Verwaltungsangestellten und Patientenvertretern. Die Aufgaben der Klinischen Ethikkomitees bestehen neben der Klinischen Ethikberatung auch darin, Leitlinien zu entwickeln und Fortbildungen zu gestalten. Ziel der klinischen Ethikberatung ist es, in ethischen Konfliktfällen ethisch klar zu argumentieren auf der Basis von Erfahrung mit ähnlichen Fällen, die rechtlichen Grundlagen zu benennen und Neutralität zu wahren. Entscheidende Bedeutung liegt dabei in der professionellen Moderation des Entscheidungsfindungsprozesses. Dieser wird schriftlich dokumentiert. Die Verantwortung für die Entscheidung liegt in Deutschland weiterhin beim behandelnden Arzt, das Ergebnis der Ethikberatung hat lediglich empfehlenden Charakter.
Eine umfangreiche empirische Studie von Schneiderman et al. wurde 2003 in den USA durchgeführt. Hier wurde randomisiert und kontrolliert der „outcome“ klinischer Ethikberatung untersucht. Dabei empfanden 87% der Ärzte, Pflegenden und Angehörigen KEB als hilfreich. 90% der Ärzte und des Pflegepersonals würden KEB wieder anfordern.
6 von 13 Angehörigen, die mit dem Ergebnis der KEB nicht einverstanden waren, würden es wieder anfordern.
Zudem zeigte sich in der Patientenversorgung eine signifikante Reduktion in der Verweildauer sowohl im Krankenhaus als auch auf der Intensivstation und in der Zahl der Beatmungstage.
Klinische Ethikberatung wird in einer Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer mit dem Titel „Ethikberatung in der klinischen Medizin“ von 2006 zur Implementierung empfohlen als „praxisrelevanter Beitrag zur besseren Versorgung von Patienten“. Die Akademie für Ethik in der Medizin hat ein Curriculum zur Fortbildung der Gesundheitsberufe in KEB entwickelt, und es gibt verschiedene Qualifizierungsprogramme sowie eine Internetplattform zur Vernetzung der Klinischen Ethikkomitees (
http://www.ethikkomitee.de/).
4. Sterbehilfe als Beispiel für ethische Konfliktsituationen
Beispielhaft für einen ethisch konfliktträchtigen Bereich in der Patientenversorgung sei auf die sog. Sterbehilfe eingegangen. Hier beginnen die Konflikte bereits bei der Nomenklatur:
In Ablösung von der alten missverständlichen Unterscheidung der Sterbehilfe in aktiv, indirekt und passiv hat der Nationale Ethikrat eine Stellungnahme mit dem Titel „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ herausgebracht, in der fünf Formen des Umgangs mit einem Patienten am Lebensende unterschieden werden. Unter Sterbebegleitung wird verstanden, dass Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst stillen, menschliche Zuwendung zeigen, Angst zu linden oder Übelkeit zu behandeln erfüllt werden. „Therapien am Lebensende“ bezeichnet die ärztliche Behandlung von Symptomen. Hierunter fällt auch der ehemals als indirekte Sterbehilfe bezeichnete Bereich, bei dem aufgrund des sog. „Doppeleffektes“ mit einer gewünschten Wirkung (z.B. Schmerzlinderung) auch eine unerwünschte Wirkung (z.B. Beschleunigung des Todeseintritts) in Kauf genommen wird. Die dritte Form des Sterbenlassens bezeichnet das Abbrechen oder Unterlassen weiterer Therapiemaßnahmen, in der alten Nomenklatur auch „passive“ Sterbehilfe genannt. Die Beihilfe zur Selbsttötung umfasst das zur Verfügung stellen todbringender Mittel. Die Tatherrschaft liegt beim Patienten. Bei der Tötung auf Verlangen wird das Leben eines Patienten durch einen Dritten mit Hilfe eines todbringenden Mittels beendet. Die beiden letzten Formen wurden in alter Nomenklatur als aktive Sterbehilfe bezeichnet.

Von 2001-2002 wurden in der sog. EURELD (European End-of-Life-Decisions)-Studie Ärzte zu ihrem Verhalten retrospektiv bezogen auf den letzten begleiteten Todesfall in verschiedenen europäischen Ländern (Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Schweden, Schweiz) befragt. Dabei wurde festgestellt, dass etwas 1/3 aller Todesfälle unerwartet auftraten, 2/3 jedoch von den behandelnden Ärzten erwartet auftraten und davon etwa 50% im Zusammenhang mit einer Form der Sterbehilfe. Weitere Studien haben gezeigt, dass passive Sterbehilfe auch mit der ausdrücklichen Absicht zur Beschleunigung des Todeseintritts durchgeführt wird‏. Letztere sollte der aktiven Sterbehilfe vorbehalten sein. Zudem verkürzt sich die Lebenserwartung bei passiver Sterbehilfe z. T. um mehr als einen Monat. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass die Behandlungskosten im letzten Lebensjahr deutlich ansteigen. Diese empirischen Befunde deuten an, dass es sich bei dem Bereich der Entscheidungen am Lebensende um potentiell ethisch konfliktträchtige Situationen handelt.
5. Ethische Güterabwägung
In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedenste ethische Ansätze zur Entscheidungsfindung in der Klinischen Ethik entwickelt. Als Beispiele seien die bekannten Hauptwerke verschiedener Bioethiker genannt: Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“, Tom L. Beauchamps und James F. Childress’ „Prinzipienethik“, Peter Singers „Praktische Ethik“ oder Norman Daniels’ „Health Care Ethics“.
Beispielhaft zur Verdeutlichung der Herangehensweise in einer klinischen Ethikberatung sei der prinzipienethische Ansatz herausgegriffen. Die von Beauchamp und Childress herausgearbeiteten Prinzipien mittlerer Reichweite Wohltun, Autonomie, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit sollen am Beispiel der Situation am Lebensende betrachtet werden.
Das
Prinzip des Wohltuns in der Medizin stammt bereits mit dem Grundsatz „salus aegroti suprema lex“ aus der Antike. Bei hochbetagten, multimorbiden Patienten auf Intensivstationen, die einen komplikationsträchtigen Krankheitsverlauf haben und bei denen nur noch eine äußerst geringe Chance auf Besserung besteht, stellt sich so die Frage, was dem gesundheitlichen Wohl entspricht. Grundlage dieser oft schwierigen Frage ist, dass diagnostische Möglichkeiten zunehmend genauer geworden sind, auch Therapien in manchen Bereichen zunehmend erfolgreicher wurden, jedoch die prognostische Sicherheit für den Einzelfall weiterhin sehr eingeschränkt bleibt. Ich kann nicht mit Sicherheit voraussagen, ob ein Patient von einer Maßnahme noch profitieren wird, oder ob sie sein Leiden (unnötig) verlängert. Weitere Schwierigkeit in Bezug auf das Wohl stellt der Grundsatz ärztlichen Handelns „in dubio pro vita“ dar. Dieser Auffassung nachzukommen, auch mit dem Schlagwort der „Defensivmedizin“ belegt, verschaffte Ärzten lange eine juristische Absicherung. Das Unterlassen von Therapie birgt immer das „Restrisiko“, gerade beim falschen Patienten Maßnahmen zu früh zu beenden. Die moralische Herausforderung liegt darin, im Angesicht dieses „Restrisikos“ unnötiges Leiden in aussichtslosen Situationen zu vermeiden, damit zum Wohl des Patienten die Therapiebeendigung zu verantworten.
Das
Prinzip der Autonomie hat zum Ziel, dass dem Patienten auf Grundlage angemessener Information eine selbstbestimmte Entscheidung ermöglicht wird (informed consent)‏. Limitierend ist hier die Asymmetrie in der Arzt-Patient-Beziehung, die zum einen oftmals in einem Wissensgefälle, zum anderen in einer strukturell hierarchischen Anlage von Gesundem zu Krankem bzw. Heilendem zu Zu-Heilendem besteht. Die Prüfung des selbstbestimmten Patientenwillens kann abgestuft nach den folgenden Fragen erfolgen:
Kann der Patient einen selbstbestimmten Willen äußern?
Liegt ein verfügter Patientenwille (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht) vor?
Was ist der mutmaßliche Wille des Patienten?
Welches gesundheitliche Interesse (Best Interest Standard) kann ich dem Patienten unterstellen?
Das
Nicht-Schadens Prinzip geht ebenfalls in der Tradition der ärztlichen Behandlung bis in die Antike zurück und findet sich dort bereits im Hippokratischen Eid. Historischer Anlass dieses Prinzips war die Erfahrung, dass Patienten durch wohlmeinende ärztliche Maßnahmen Schaden erlitten. Dies ist heute angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts wiederum die Gefahr, da er zwar Möglichkeiten eröffnet, bei fehlendem Erfolg dem Patienten aber auch Leid zufügen kann.
Bei dem
Prinzip der Gerechtigkeit findet der Übergang vom Einzelfall zur Allgemeinheit statt, insofern, als hier die gerechte Verteilung begrenzter Ressourcen bei der Behandlung des Einzelnen berücksichtigt wird. Dies äußert sich bereits jetzt beispielsweise in den begrenzten Möglichkeiten zur intensivmedizinischen Behandlung.
Zusammenfassend lässt sich zur Klinischen Ethikberatung sagen, dass sie einen Teilbereich der Klinischen Ethik darstellt, der auch in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Ihr Auftrag ist, die Patientenversorgung zu verbessern. Der Erfolg wird u.a. an der Zufriedenheit und dem Potential zur Reduktion unnötiger Behandlung gemessen.
Sterbehilfe ist ein wichtiges Thema in der KEB, da häufig Verunsicherung bezüglich ethischer und rechtlicher Grundlagen bei Konfliktsituationen am Lebensende besteht.
In der KEB sind die vier Prinzipien Wohltun, Autonomie, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit für die Beurteilung ethischer Konflikte in den USA und Europa richtungsweisende Einflussgrößen.