Ilija Trojanow hat den Offizier, Weltreisenden, Afrikaforscher, Orientalisten und Schrift-steller Richard Francis Burton (1821-1890) zum Protagonisten eines Romans gewählt. Die Biographie der historischen Person dient als Gerüst. Biographien, auch noch so detaillierte, enthalten Unbestimmtheitsstellen für weitere Ausführung. Der Biograph meidet fiktionale Ausführungen oder er markiert sie. Der Romancier ist zu einer solchen historischen Treue nicht verpflichtet. Er schreibt nicht, wie es gewesen ist, er wählt aus, lässt weg, und schafft aus den biographischen Daten und ihren Unbestimmtheitsstellen und in dem Raum, den er durch die Auswahl gewinnt, den Protagonisten und seine Mitmenschen, seinen Lebensgang und seine Welt. Der Titel des Romans passt zur historischen Person und ist darüber hinaus eine glänzende Abbreviatur des Protagonisten Burton, seines Handelns, Wollens, seiner Leiden und Erfolge.
Die drei zentralen Kapitel des Romans schildern Burtons Aufenthalt in Indien, seine Pilgerreise nach Mekka (Hadj) und seine Expedition zum See Tanganyika auf der Suche nach der Quelle des Nils. Umrahmt werden sie von der Eingangsszene an Burtons Sterbebett (»Letzte Verwandlung«) und die unmittelbar daran anschließende Schlussszene (»Offenbarung«), in welcher der Priester, der Burton auf Wunsch seiner Frau die Letzte Ölung gespendet hat, Aufschluss über die Rechtmäßigkeit der sakramentalen Handlung finden will.
Wir näherten uns dem Roman übers Technische. Der Romaninhalt wurde im Zusammenhang mit den Ausführungen zur Anlage und Erzählweise, der Szenenregie und perspek-tivenreichen Vermittlung, der Vielfalt und Übergänge der Erzählperspektiven, und der Stilebenen und Sprechweisen in großen Zügen erinnert.
Die Art und Weise, wie Trojanow die Ereignisse der Weltensammlung chronologisch darbietet und diese Abfolge aufhält und durchsetzt, ist strukturbildend für die drei zentralen Kapitel.
Britisch-Indien. Die Geschichte des Schreibers des Diener des Herrn
Nach der Ankunft in Bombay (§ 0) wird in den geradzahligen Abschnitten (§2 - §64) Burtons Indienaufenthalt chronologisch erzählt. Sein indischer Diener Naukaram ist – wie sich nach und nach herausstellt – mit ihm schließlich nach England zurückgekehrt. Nachdem ihm Burton gekündigt hat, befindet er sich wieder in Indien. Um erneut eine Stellung in britischen Diensten zu finden, will er ein Bewerbungsschreiben verfassen. Der Schreiber (Lahiya), den er für das Schreiben gewinnt, veranlasst ihn, sein Leben mit Burton zu erzählen. Diese (ausufernden) Erinnerungen (§1 - §63) relativieren und ergänzen den chronologischen Bericht (§0 - §64). Da sie die gleichen Ereignisse, deren benachbarte Begebenheiten und die zuweilen fehlenden Zusammenhänge aus der zeitlichen Distanz, Rückschau und aus dem verwundeten Gemüt eines treuen Dieners seines Herrn schildern, halten sie die chronologische Abfolge auf. Sie durchsetzen sie mit der eigenen Auffassung der gleichen Geschehnisse, mit (zunächst) rätselhaften Vorgriffen und mit eigenen Erlebnissen. Chronologisch sollten die Abschnitte 1 - 63 auf die Abschnitte 0 – 64 folgen, inhaltlich sind sie mit gutem Grund (und zu unserem Lesevergnügen) in die Chronologie eingeschoben.
In schematischer Verkürzung lässt sich Trojanows Zeitregie folgendermaßen skizzieren:
Britisch-Indien. Die Geschichte des Schreibers des Diener des Herrn [Naukaram]
Chronologische Erzählung von Burtons Aufenthalt in Indien. (Erzählformen: Auktorial und personal und einige Dialogstücke.)
Ankunft                                           Rückkehr
in Bombay                                       nach England
0246 . . . . . . . . . . 640
135 . . . . . . . . . 63
Naukarams Gespräche mit Laiya aus der Rückschau auf die chronologischen Ereignisse. (Erzählformen: Dialoge und einige monologische Auswüchse.)
Arabien. Der Pilger, die Satrapen und das Siegel des Verhörs
Analog zu Naukarams Gesprächen kann man wieder einen Erzählstrang aus der Rückschau ausmachen. Nach der Londoner Veröffentlichung des Buchs »Personal Narrative of a Pilgrimage to El-Medinah and Meccah« untersuchen die ‘Satrapen’ Burtons vermeintliche Motive und politischen Absichten, die ihn zur Hadj veranlasst und auf ihr geführt haben. Diese Untersuchung samt den Verhören seiner damaligen Weggefährten werden in Form von drei Briefen und dann in Gesprächen durchgeführt. (Person und Motive des Weltensammlers bleiben den Untersuchenden fremd.)
Ostafrika. In der Erinnerung verschwimmt die Schrift
Wiederum zwei Erzählstränge: 1. Sidi Mubarak Bombays Erzählung in direkter Rede und im Palaver mit seinen Freunden von der (lange vergangenen) Expedition mit Burton und Speke zum See Tanganyika auf der Suche nach der Nilquelle. (In meiner Zählung die ungeraden Abschnitte 1. – 41). 2. Im Präsens gebotene Szenen, Stationen (mit geringem Erzählfortgang) und Bilder von der Expedition, in deren Mittelpunkt Burton steht. Diese Szenen (Abschnitte 2. – 40.) durchsetzen den chronologisch fortgehenden Bericht Mubaraks.
Der Reichtum und die Raffinesse der vielfältigen Erzählperspektiven und Vermittlungs-formen wurde an den ersten Seiten des Kapitels »Ostafrika« genauer erörtert. Die Vorleserin (Alicia Rosinski) las die Seiten 355 -359 abschnittsweise vor. Der Kommentar des jeweiligen Abschnitts wurde hineingesprochen. Es ging um den Prozess, in dem aus einem nicht erfahrungshaften Bericht eine gegenwärtige Situation entsteht, in der nach und nach auch ein Erzählmedium fassbar wird. Eine Person erscheint und wird mit dem, was ihr gewohnheitsmäßig eignet, mit ihren eigentümlichen Erfahrungen, ihren Gedanken und Empfindungen als eine bestimmte Person sichtbar: Sidi Mubarak Bombay. Im Gegensatz zum Bericht des anfänglichen erfahrungslosen Erzählens, wird fremdes, personales Leben vermittelt, das trotzdem bis ins Innere bekannt ist: Ein auktorialer Erzähler taucht auf zusammen mit der Welt und Innenwelt, die er vermittelt. Die Welt trägt die Färbung personalen Lebens. Mubarak bleibt gegenwärtig, auch wenn er nicht genannt wird. In deutlicher Regie werden ihm Gedanken zugeordnet: „Es gab nichts Ewiges […]“. Bald wird er in einen nicht markierten Dialog verwickelt werden, in ein Gespräch, das erzählerisch vermittelt und mit kleinen Handlungen, Gesten und Vorgriffen durchsetzt ist. Aus dieser Gegenwart wird die Erinnerung in die Tiefe der Jahre führen und zu deutlichen Szenen des einst gelebten Lebens. Aus diesen auftauchend („Und an diesem Tag […]“), wird Mubarak mit Freunden, die hinzukommen, in ein Palaver eintreten, das nicht erzählt, sondern aus einer neutralen Kameraposition unmittelbar dialogisch gegeben wird. (Es ist nicht der Ort für Details. Ich breche ab.)
Wie von selbst ergab sich ein ausführlicheres Charakterbild des Protagonisten Burton, seines Dieners Naukaram, der (zu wenig) geliebten Kundalini, Mubaraks und des vertrauten, fremden Kollegen auf der Expedition, Speke.
Die Vorleserin schloss nach der Diskussion den Untersuchungsgang mit dem Textstück, mit dem sie ihn begonnen hatte („aber auch in der Erinnerung, das wusste er, verschwimmt die Schrift.“).

Do what thy manhood bids thee do,
From none but self expect applause:
He noblest lives and noblest dies
Who makes and keeps his self-made laws.

Verricht, was deine Ehre dir befiehlt,
Von dir erwarte Lob, von nichts sonst in der Welt:
Der lebt am edelsten und stirbt am edelsten,
Der sein Gesetz sich gibt, das selbstgesetzte hält.

Richard Francis Burton, Kasidah VIII