Hans Zender, geb 1936, hat in seiner 1980 uraufgeführten „Kantate nach Worten von Meister Eckhart“ einen Abschnitt aus einer Predigt des Meisters („Ave gratia plena“) in vier kammermusikalisch instrumentierten Sätzen vertont: Zur textinterpretierenden Altstimme treten – in den Außensätzen - eine Alt-Querflöte, ein Violoncello und ein Cembalo. In der Besetzung des zweiten Satzes fehlt das Violoncello, im dritten wird die (Sprech-)Stimme hingegen nur vom Cello begleitet.
Auch hinsichtlich des formalen Konzepts unterscheiden sich die vier Sätze: Der Text wird durch sie nacheinander in ariosem Stil, als Rezitativ, als Melodram und - abschließend - als strophischer Hymnus interpretiert. Das Werk ist Olivier Messiaen „in großer Verehrung“ gewidmet.
Das Hauptaugenmerk der Analyse wurde im Referat aus Zeitgründen auf den ersten und auf den dritten Satz gelegt.
Der Text des ersten Satzes (mit grobem Formschema):
A Allez leit und allez liep daz kumet von minne.
B Ich gedâhte underwegen, dâ ich her sollte gân, ich enwolte niht her gân, ich würde doch naz von minne.
C (A‘) Swenne ir naz sît worden von minne, daz lâssen wir sîn. Liep und leit kumet von minne.
Der erste Satz ist eine in große melodische Gesten transponierte deklamatorisch freie Rede. Seinen Stil verdankt er aber nicht nur den großen Intervallspannen und gedehnten Zeitwerten der Melodik, sondern ebenso einer konsequenten Differenzierung der Tondauern, die jedes Gleichmaß verhindert. Da, wo der Predigttext – im Mittelteil des ausgewählten Abschnitts – in erzählenden Ton übergeht, wird diese Differenzierung in einer Art parlando auf kürzere Dauerwerte übertragen. Zugleich findet in diesem Mittelteil ein Spiel der Diminutionen und Augmentationen der Zeitwerte statt: die melodische Figur der Singstimme wird in den Instrumentalstimmen in unterschiedlichen metrischen Verhältnissen mit sich selbst überlagert.
Die Tondauer erscheint in allem als der für die Struktur des Satzes wichtigste Parameter der Musik, ein Rückbezug auf die kompositions-(und notations-)technischen Probleme, mit denen Meister Eckharts musikalische Zeitgenossen sich auseinander zu setzen hatten, liegt nahe.
(Im vierten Satz führt die Vielfalt der Dauerwerte dann vorübergehend zur Bildung einer Zwölferreihe der Tondauern, was man wiederum als einen vom Werk ausgehenden Bezug auffassen kann: hier auf Olivier Messiaen, den Widmungsträger der Kantate, der der erste war, der das Prinzip der Reihe auf die Strukturierung von Tondauern übertrug.)
Historische Bezüge der Komposition sind aber auch im ersten Satz nicht nur in einer einzigen Perspektive möglich. Zum Beispiel ist die Klangwirkung der Instrumentalstimmen dort, wo der Prediger von den Tränen der Liebe spricht (...ich würde doch naz von minne) kaum anders zu hören, als mit Assoziationen an barocke Tränentropfen-Metaphorik. Die Stileinheit der Zenderschen Komposition wird durch derlei nicht in Frage gestellt (erst die im letzten Satz zitierten Vogelstimmen à la Messiaen lassen eine andere musikalische Welt in das Werk ein).
Das arienhafte Wesen des ersten Teils bestätigt sich im Schlussteil des Satzes, in dem die Thematik des Mittelteils weiterwirkt, indessen mit dem Hauptgedanken dieses Predigtabschnitts auch die expressive melodische Gestik des Anfangs zurückkehrt: eine geschlossene Form (s.o.), die ja als Form der Arie eine lange Tradition hat.
Der dritte Satz überrascht den Hörer mit einer melodramatischen Verbindung von Sprache und Musik. Die musikalische Basis der Textrezitation ist eine Variationenreihe für Violoncello solo, die in sieben Abschnitten („Thema“ und sechs Variationen) komplett durchgeführt wird (in zwei Abschnitten auch ohne Beteiligung der Sprechstimme) und deren Form die für instrumentale Variationen typischen Merkmale aufweist: Exposition eines die Entwicklungskeime des Stückes enthaltenden Themas; Differenzierung der Variationen nach unterschiedlichen instrumentalen Techniken; Aufeinanderfolge figurativer Varianten nach dem Prinzip der Steigerung; Rückbezug des Schlusses auf das Thema.
Text und Struktur:
(Thema) Die meister sprechent, daz alliu dinc würkent dar nach, daz sie wellent gebern – und wellent sich dem vater glîchen, und sprechent:
(Var.1) diu erde vliuhet den himel;
vliuhet si niderwert, sô kumet si niderwert ze dem himel;
vliuhet si ûfwert, sô kumet si ze dem nidersten des himels.
(Var.2, instr.)
(Var.3) Diu erde enkan sô nider niht gevliehen, der himel envlieze in sie und endrücke sine
maht in sie –
endrücke sine maht in sie und enmache sie vruhtbaere, ez sî ir liep oder leit.
(Var.4, instr.)
(Var.5) Alsô tuot der mensche, der dâ waenet gote entvliehen –
Und er enkan im doch niht entvliehen; alle winkel sint im ein offenbârunge.
(Var.6) Er waenet gote entvliehen –
Und loufet im in die schôz.

Der Predigttext wird zeilenweise in den Lauf der Musik hineingesprochen. Eine vorfixierte Bindung von Textworten an musikalische Klänge oder Figuren gibt es generell nicht; nur für das Schlusswort des Textes, schôz, verlangt Zender den synchronen Einsatz von Stimme und Instrument. Im Cello erklingt da der Zweiklang C-des, d.h. der Zusammenklang zweier durch eine Oktav von einander getrennter chromatischer Nachbartöne, ein (in der Neuen Musik nicht nur hier anzutreffendes) Klangsymbol für ein dialektisches Verhältnis von Nähe und Ferne. Dieser Klang ist als Zielpunkt charakteristischer Figuren schon im „Thema“ angelegt.
Zender komponierte den instrumentalen Part dieses Satzes als eine sich selbst genügende Form und sah den Text als „Widerpart der Musik“. In dieser spannungsvollen Konstellation ist es dem Hörer überlassen, Konvergenzpunkte zwischen Klang und Wort zu finden. Es ist ein Weg von außen nach innen, vom Wahrnehmen spieltechnisch-klanglicher Außen- wirkungen zum Hineinhören und –sehen ins Detail. Zunächst werden einfache Gegebenheiten der Musik, wie die Bewegungsrichtung der Figuren, zu akustischen Metaphern für das Textwort: Das dynamische Auf und Ab der Sechzehntelfiguren in Variation 1 ist genauso mit der Vorstellung „Flucht“ zu verbinden, wie die Konzentration auf die Abwärtsbewegung in Variation 3 die vom Text beschworene Bildvorstellung des auf die Erde herabkommenden Himmels unterstützt. Das Erkennen interpretatorischer Details wird dann von einer grundlegenden Analogie von Text und Musik gestützt. Wie der Predigttext einen Prozess schildert, so ist auch das Prozesshafte der Musik in dieser Reihe von „Veränderungen“ besonders ausgeprägt. Das beginnt schon im Thema: in den strukturell wichtigen Figuren dieses Abschnitts finden wir eine graduelle Erweiterung bzw. Verkürzung der Tondauer (des auch in diesem Satz besonders auffälligen musikalischen Parameters). Zur Veranschaulichung solcher allmählicher Veränderung wurde im Vortrag das graphische Zeichen einer sich öffnenden bzw. schließenden Gabel verwendet, das in Notentexten für die Darstellung stufenloser Zu- oder Abnahme der Lautstärke üblich ist (crescendo, decrescendo). Es ließ sich in der Folge auf weitere musikalische Bestimmungsgrößen übertragen, z.B. (in Variation 4) auf das Spieltempo. Am eindrücklichsten bildet sich Prozesshaftes aber in der aus Doppelgriffen bestehenden Variation 5 ab: das Auseinander- bzw. Aufeinanderzulaufen zweier melodischer Linien (das in der letzten Variation dann zugleich ein Erweitern bzw. Verkürzen der Tondauern ist) wirkt als musikalische Antwort auf die Bewegungen, von denen der Text der Predigt spricht (Das Weglaufen vor Gott, das Hineinlaufen in Gottes Schoß).