Auf dem Hintergrund der neueren Auseinandersetzungen über die Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde unter dem Titel Sensus fidei – sensus fidelium (Sinn des Glaubens – Glaubenssinn der Gläubigen) die prophetische Berufung aller Getauften nach der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (Lumen Gentium Nr. 12) behandelt. Der Text – in gegliederter Fassung vorgelegt – lautet:
(1) Das heilige Gottesvolk nimmt auch teil an dem prophetischen Amt Christi, in der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch das Leben in Glauben und Liebe, in der Darbringung des Lobesopfers an Gott als Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen (vgl. Hebr 13,15)
(2) Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht irren. (
Universitas Fidelium [...] in credendo falli nequit.)
(3) Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes (
mediante supernaturali sensu fidei totius populi) dann kund, wenn sie ‚von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien’ [Augustinus] ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert.
(4) Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und genährt wird, hält das Gottesvolk unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes empfängt (vgl. 1 Thess 2,13), den einmal den Heiligen übergebenen Glauben (vgl. Jud 3) unverlierbar fest.
(5) Durch ihn dringt es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben voller an
.
Der Text wurde kurz erklärt und seine Entstehungsgeschichte erläutert. In sieben Thesen wurde die Interpretation gebündelt und zur Diskussion gestellt:
1. Lumen Gentium Nr. 12 zufolge ist der Glaubenssinn eine eigene, ursprüngliche Erkenntnisart
aller Glaubenden, ein „Gespür für das Wesentliche an Gottes Offenbarung“ (H. Vorgrimler), ein „Vertrautsein mit dem Glauben“ (P. Hünermann), das aller Glaubensvermittlung voraus- und zugleich zugrunde liegt. Der Glaubenssinn ist die Vor-Gabe des Glaubens, die sich – vor aller lehramtlichen Vermittlung und theologischer Rationalisierung – dem Gottesgeist verdankt.
2. Der Glaube, der im Kontext des Taufsakramentes sinnlich wahrgenommen, kommunikativ vermittelt und theologisch begründet wird, ist als Gotteswort nur dann vernehmbar, wenn er den einzelnen vom Gottesgeist (als dem inneren Lehrer) durch die „geistlichen Sinne“ (K. Rahner) erschlossen wird.
3. Der
sensus fidei trägt alle kirchliche Meinungsbil­dung, Verkündigung und Rationalisierung; kirchliche Meinungsmonopole sind damit nicht zu be­gründen. Eine Einteilung der Kirche in eine lehrende und eine hörende ist nicht mehr möglich. Die Gemein­schaft der Glaubenden darf sich deshalb im „kommunikativen Dissens“ (F.-X. Kaufmann) nicht aufreiben. Wo das vorrationale Vertrautsein mit dem Glauben fehlt oder verloren gegangen ist, scheitert im Normalfall auch die rationale Vermittlung des Glaubens.
4. Gleichwohl ist die gegenwärtige Erfahrung des „kommunikativen Dissenses“ für die Ge­samtkirche heilsam, wenn sie dadurch lernt, nach jenen Grundlagen des Glaubens zu fragen, die auch die Meinungsverschiedenheiten noch tragen und Gottes unergründliches Wort aufleuchten lassen.
5. Empfängerin und Hüterin des
sensus fidei ist die – synchron und diachron verstandene – Universalkirche (ecclesia univeralis), die verfassungsmäßig auf den kanonischen Schriften aufruht, ohne die und gegen die sich keine Person und kein Amt mit Berufung auf den Heiligen Geist auf das bessere Wissen versteifen kann.
6. Der
sensus fidei ist aber auch Inspiration der glaubenden Einzelsubjekte, die in Freiheit Kirche als Glaubensgemeinschaft (congregatio fidelium) bilden. Die repräsentativen Organe der Kirche müssen dafür sorgen, dass Konsensprozesse ermöglicht und mitgetragen werden. Dabei hat die Kirchenleitung darauf zu hören, was der Geist den Gemeinden sagt. Der faktische Konsens ist zu unterscheiden von argumentativem Konsens, der Gottes Wort im Menschenwort empfängt.
7. Der Sinn für Glauben als Wirkung des Heiligen Geistes ist nach Röm 8 auch ein Sinn für den Kosmos in seinen Geburtswehen und in seiner Hoffnung auf Befreiung. In dieser Erfahrung des Leidens und der Hoffnung berühren sich Welterfahrung und Geisterfahrung, so dass eine tragfähige Brücke für das Gespräch mit postreligiösen Grunderfahrungen der Gegenwart gegeben ist.