Die Komposition Pulse Shadows enthält neun Gedichte aus den Bänden Sprachgitter (1959), Die Niemandsrose (1963), Atemwende (1967) und Lichtzwang (1970) in der Übersetzung von Michael Hamburger: Paul Celan, Selected Poems, Anvil Press Poetry, London 1988, Penguin Books 1990.

 

Hamburger, 1924 (Berlin) – 2007 (Suffolk), war selbst ein bedeutender Lyriker und ein bekannter Essayist, Literaturkritiker und Vermittler der deutschen Literatur in die englisch-sprachige Welt. Er hält sich genau an Celans Gedichte, vermeidet jegliche Paraphrase oder erläuternde Einsprengsel. Seine Texte sind so hart wie die Originale. Für den deutsch-sprachigen Hörer liegt es nahe, sie mit und gegen das Original zu lesen, um so dem Text der Komposition nahezukommen. Dieser Weg wurde bei der Interpretation der vier ausgewählten Vertonungen - alle aus dem Band Sprachgitter (1959) - eingeschlagen.

WEISS UND LEICHT       WHITE AND LIGHT
MIT BRIEF UND UHR      WITH LETTER AND CLOCK
EIN AUGE, OFFEN           AN EYE, OPEN
NACHT                              NIGHT
»Bildhaftes, das ist keineswegs etwas Visuelles; es ist, wie alles mit der Sprache Zusammenhängende, ein geistiges Phänomen. […] Es ist, auch hier, eine Erscheinungsform der Sprache, eine aus dem Geschriebenen, also Stummen, herauszuhörende Sprechart (Sprachgitter, das ist auch das Sprechgitter macht das sichtbar.)« (Aus den Materialien zur Büchnerpreisrede der Meridian, Tübinger Ausgabe, Frankfurt a. M. 1999, S. 107.)
Zur Einübung ins Bilderlesen wurde in einem Vorspann die Wirkungsweise von Vergleich und Metapher erinnert (Heine, Die Heimkehr und Goethe, Heidenröslein und Gefunden). Es ging darum zu erinnern, daß wir Metaphern wohl erörtern müssen, daß wir sie aber nicht auflösen können und bei aller unumgänglichen Vergleichung und Beziehung auf außer-sprachliche Realität, auf gängige Vorstellungen und Verstandesbegriffe, beim Bild bleiben müssen. Die Erörterung löst das Bild nicht auf und bleibt nicht für sich übrig, sie bestimmt es und läuft ins bedeutungsreichere, präzisere Bild zurück. Die Erörterung nimmt nach und nach die verschiedenen Züge des Gedichts auf, die Überschrift, die Zeilen und Zeilenbrüche, die Worte und Wiederholungen und Entsprechungen, die Wortlaute, die Betonung und rhythmische Bewegung der Zeilen und Blöcke, die Syntax, den Fortgang, die Gegensätze innerhalb dieser Sprachschichten usw. Sie achtet auf das, was anklingt und oft auf das, was nicht gesagt wird. Solches Bilderlesen und Hören des Sprachgitters ist beim Verstehen von Celans Versen – im Deutschen, wie im Englischen – in besonderem Maße gefordert. Das Gedicht bildet keine Realität ab, die sonst noch und auf andere Weise zugänglich wäre. Seine eigene Realität – die das Gedicht in seinem Vorgang erzeugt – gilt es zu gewinnen. (Wie steht seine poetische Realität zur Realität, die es nicht abbildet? Das ist eine eigene, spätere Frage.) Es leuchtet wohl ein, daß die vorgetragenen Interpretationen nicht in Abbreviatur wiederholt werden können. Wer das Bilderlesen und das Hören des Sprachgitters versucht, muß ausführlich werden.
Nachtrag
Bei den Interpretationsgängen war es, aus Zeitmangel, nicht möglich, auf die angegebenen, wenigen Hilfsmittel einzugehen. Das möchte ich nachholen.
1. Paul Celan, Historisch-kritische Ausgabe, begründet von Beda Allemann, besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die Celan-Ausgabe, Rolf Bücher, Axel Gellhaus, Suhrkamp, Ffm. 2000 ff.
Die historisch-kritische Ausgabe gibt die erhaltenen Vorstufen und Fassungen und damit Einblick in die Genese eines Gedichts. Sie nennt die Abfassungszeit, womöglich den Anlaß, das Erscheinen in Briefen und die Druckgeschichte. Sie präsentiert diese Materialien möglichst vollständig. Leser, die keine literaturwissenschaftliche Absicht verfolgen, werden sie als einen Dschungel empfinden. In gesichteter und übersichtlicher Weise bietet das gleiche Material
2. Paul Celan, Werke, Tübinger Ausgabe, hrsg. Von Jürgen Wertheimer, Suhrkamp, Ffm. 1996 ff.
Sie verweist zudem auf Celans Lektüre, besonders auf Stellen, die er mit seinen Gedichten in Verbindung bringt, indem er z. B. eigene Verse anmerkt. In noch stärkerer Auswahl und Raffung bietet diese Lesehilfen
3. Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Suhrkamp, Ffm. 2003.
Die Textgenese kann beim Bilderlesen hilfreich sein. Durch die Differenz der verschiedenen Fassungen hindurch läßt sich zuweilen besser verstehen, wie die verschiedenen Bedeutungsmomente zusammenschießen. Dabei sind die Momente, die sich durchhalten und im Fortgang modifiziert werden, so wichtig wie die Momente, die ausgeschlossen werden. (Manches Verworfene taucht in anderen Gedichten wieder auf.) Im Gedicht Mit Brief und Uhr sind uns die Frühstufen hilfreich gewesen. Merkwürdig, wie sich der Refrain »Kommst du nun, schwimmendes Licht?« herauskristallisierte. Michael Hamburger hat durch die syntaktische Umstellung »Swimming light, will you come?« Birtwistle zu einer immer emphatischeren Vertonung angeregt (?), wogegen im Original der Refrain stiller und zu einer einfachen Bitte wird.
Auch die immer wiederkehrende Erfahrung, daß das Sprachgitter Bedeutungsmomente zusammenhält, die dem verständigen Vorstellen widersprüchlich auseinander gehen, kommt beim Durchgang durch die Textstufen deutlich zum Vorschein. Solche bestimmte Vieldeutigkeit gehört zur Präzision Celanscher Bilder.
Der Verweis auf Celans Lektüre eröffnet einen Horizont. So konnten wir z. B. »Die Strahlen. Sie wehn uns zuhauf« (Weiss und Leicht) auf Stellen aus Scholems Die Geheimnisse der Schöpfung (Schocken-Verlag, Berlin 1935) beziehen. Celan hat den Abschnitt angemerkt. Gewöhnlich handelt es sich nicht um einfache Übernahmen oder Zitate, aber der Verstehensgang wird auf eine Spur gebracht und kann der Auseinandersetzung folgen.
Besonders hilfreich ist der Hinweis auf Celans Excerpte aus naturkundlichen Büchern. Er hat Listen angelegt. (Beispiele wurden gezeigt.) Der dingliche Grund mancher Metaphern wird dabei greifbar. »Sicheldünen, ungezählt«, »Meermühle geht, / eishell« (Weiss und Leicht) gehören dazu. Der dingliche Grund hindert nicht, solche Worte auch metaphorisch zu lesen. Im Gegenteil, ihre bestimmte Vieldeutigkeit gewinnt nur, wer die dingliche Bedeutung mithört. Das Grimmsche Wörterbuch sollte bei der Lektüre greifbar sein. (Nicht nur Günter Grass ist ein Liebhaber dieses Werks.)
Bei Celan gibt es zentrale Worte, die wiederkehren. Es ist naheliegend, sie in den verschiedenen Contexten aufzusuchen. (Man folgt dabei dem hermeneutischen Grundsatz scriptura scripturae interpres.) Diesem Zweck dient
4. Karsten Hvidtfelt Nielsen und Harald Pors, Index zur Lyrik Paul Celans, Fink München 1981. [Verzeichnet den gesamten Wortbestand.]
Auf diesem Weg haben wir uns z. B. der Bedeutung von »Die Strahlen. Sie wehn uns zuhauf«, »die Stirnen, die man uns lieh«, »Spiegelung«, »Auge«, »Licht« genähert. Dieses Ausgreifen auf die gleichen Worte in verschiedenen Contexten erfordert Umsicht. Es ist nicht ausgemacht, daß solche Worte in verschiedenen Contexten dasselbe oder das gleiche bedeuten. (Manche Worte, z. B. aus dem Wortfeld »Licht«, haben je nach Context entgegengesetzte Bedeutungen.) Innerhalb eines und desselben Gedichtbandes — Celan hat die Einzelausgaben von 1952 - 1971 sorgfältig komponiert — scheint der gegenseitige Aufschluß am stärksten zu sein. Für das Gedicht Ein Auge, Offen haben wir solchen Aufschluß gesucht: Ein Auge, Offen – »Schmerzende Augapfeltiefe« – »Augentausch, endlich, zur Unzeit« – »Augen-Du« – »Schliere im Aug« – »Wachs, / das Ungeschriebne zu siegeln, darauf, / dein Aug, das schwimmende / Licht ruht« [Mit Brief und Uhr, Vorstufe] - »Komm, schwimmendes Licht«.
Die Reibung zwischen Michael Hamburgers Übersetzung und dem Original schärfte an mehreren Stellen das eindringliche Verständnis nicht nur des vertonten Textes.