Nicht zum ersten Mal habe ich im Pommersfeldener Kreis dafür geworben, die klassischen Texte der Glaubensüberlieferung nicht zu vergessen.
Auf dem letzten Treffen befasste ich mich vor allem mit dem Horos von Chalkedon (451) mit den entscheidenden Sätzen: „[…] ein und derselbe Christus, Sohn, Herr, Einziggeborener, in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt kund getan, in keiner Weise unter Aufhebung des Unterschieds der Naturen aufgrund der Einigung, sondern vielmehr unter Wahrung der Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen und im Zusammenkommen zu einer Person und einer Hypostase, nicht durch Teilung oder Trennung in zwei Personen, sondern ein und derselbe einziggeborene Sohn, Gott, Logos, Herr, Jesus Christus, wie die Propheten von Anfang an über ihn lehrten und er selbst, Jesus Christus, uns gelehrt hat, und wie es uns im Symbol der Väter überliefert ist.“ (J. Wohlmuth, Hg., Dekrete der ökumenischen Konzilien I, 86)
Ferner mit der Glaubenserklärung (Ekthesis pisteos) des dritten Konzils von Konstantinopel (689/81) mit der Aussage: „[…] Ebenso verkünden wir in ihm auch zwei natürliche Weisen des Wollens oder zwei Willen und zwei natürliche Tätigkeiten, ungeteilt, unverändert, unzerstückelt und unvermischt gemäß der Lehre der heiligen Väter. Näherhin geht es einerseits um zwei natürliche Willen, die einander nicht entgegengesetzt sind – das sei ferne! –, wie es die glaubensfeindlichen Häretiker behaupteten. Vielmehr ist sein menschlicher Wille folgsam, er widerstrebt oder widersetzt sich nicht, sondern er ordnet sich seinem göttlichen und allmächtigen Willen unter; denn der Wille des Fleisches mußte bewegt und dem göttlichen Willen untergeordnet werden, wie der allweise Athanasius lehrt. Denn wie sein Fleisch Fleisch des göttlichen Logos genannt wird und ist, so wird auch der natürliche Wille seines Fleisches der dem götlichen Logos eigene genannt und er ist es auch, wie er selbst sagt: „Ich bin vom Himmel herabgekommen, nicht um meinen Willen zu tun, sondern den Willen des Vaters, der mich gesandt hat.“ (Joh 6,38)“ (Dekrete der ökumenischen Konzilien I 127-130)
Mit diesen Texten haben sich neuere Arbeiten zur Christologie befasst. Hervor sticht vor allem die Habilitationsschrift von Georg Essen „Die Freiheit Jesu“ (Regensburg 2001). Essen beruft sich dabei auf die Freiheitstheorie von Hermann Krings und Thomas Pröpper. In streng formaler, transzendentaler Version bedeutet Freiheit „unbedingtes Sich-Öffnen, Sich-Entschließen und Sich-Verhalten“. Zur realen Freiheit wird sie aber erst „durch die tatsächliche Affirmation eines Inhaltes.“ Der angemessene Gehalt kann aber nicht irgendetwas sein, sondern muss der Form der transzendentalen Freiheit entsprechen. Freiheit setzt sich „ihrer Form nach als unbedingte Selbstbestimmung nur im Entschluss für andere Freiheit.“ Damit aber sei Freiheit kein autarker Solipsismus mehr, sondern Freiheit gibt sich letztlich erst dadurch einen entsprechenden Inhalt, dass sie andere Freiheit bejaht.
Der Begriff der Kenose (Entleerung, Selbsterniedrigung) erhält eine zentrale Stelle. An dieser Stelle wird deutlich, dass für Georg Essen H. U. v. Balthasar Pate steht. Die freiheitstheoretische Vertiefung führt dann zu folgender Denkfigur in der Christologie: „Der göttliche Sohn ist die menschliche Freiheit, und die Freiheit des Gottessohnes ist eine echt menschliche.“ Die Kenose freiheitstheoretisch buchstabiert bedeutet: Die Menschwerdung muss eine Freiheit voraussetzen, „die innertrinitarisch und insofern prä-inkarnatorisch in der Einheit von ursprünglich-unbedingtem Sich-Entschließen und ursprünglich trinitarisch vermittelter Fülle existiert.“ (310) Menschwerdung ist identisch mit Kenosis, die freiheitstheoretisch so zu verstehen ist, „daß sich die göttliche Freiheit des Sohnes in einem Akt schöpferischer Selbstbeschränkung selbst dazu bestimmt […] sich geschichtlich so zu realisieren, wie es dem Wesensgesetz der endlichen Freiheit entspricht.“ (310f.)
Der kleine Einblick in die heutigen Interpretationsversuche zeigt jedenfalls, dass der Horos von Chalkedon nach wie vor zum Nachdenken anregt. Er lässt zugleich so viel Spielraum, dass man mit Recht sagen kann, Chalkedon sei Anfang, nicht schon Ende der christologischen Reflexion.