Der gemeinsamen Lektüre – anhand der zweisprachigen Ausgabe mit der Übersetzung von Nora Wydenbruck – wurde ein Gedankenexperiment vorausgeschickt. Wie sähe eine Sprache aus, die der Maßgabe idealer Klarheit und Deutlichkeit folgte (Descartes, Principia philosophiae I,45)? – Die Diskussion und Resultate gilt es hier nicht zu wiederholen. – Die Sprache des alltäglichen Lebens kann so nicht verfahren. Wir sagen, was uns begegnet, beschäftigt, was wir erfahren und wie wir es erleben und was wir wollen. Die Bedeutungselemente unserer Sätze sind uns – von ganz routinierten Handlungen einmal abgesehen – nicht schon von vorneherein klar, gegenwärtig und offenkundig (notio clara; praesens & aperta), noch deutlich von anderen ebenso klaren Bedeutungselementen unterschieden und abgetrennt (notio distincta; sejuncta & praecisa). Auf das, was wir erfahren, nennen, beschreiben und zu begreifen suchen, sind wir erst noch aus. Auch was wir wollen, klärt sich im Sprechen. Die Bedeutungselemente unseres Sprechens haben neben einer relativ klaren Bedeutung einen Hof von Nebenbedeutungen, sie implizieren, wecken und präzisieren einander, wiederholen con variazione und deuten vor. Was es zu sagen gilt, vollzieht sich in einem offenen Horizont. Wir beginnen nicht clare et distincte, sondern zielen auf größere Klarheit und deutlichere Unterscheidung, auf intensiveres Erfahren und umfassenderes Begreifen. (Klarheit und Unterschied decken sich nicht mit den cartesianischen Bestimmungen einer notio clara und erst recht nicht mit einer notio distincta, sejuncta et praecisa.) Dichtung erwächst aus dem lebensweltlichen Sprechen, zumal wenn, wie in den Four Quartets [F.Q.] ihr Gegenstand das menschliche Dasein in der Zeit ist.
1. Information über die Gedichte kamen zu kurz (man kann sich mit ihnen auch vor einer einläßlichen Lektüre drücken). Es wurde direkt mit dem Anfang der Quartette, mit der Zeit begonnen. Thema und Gegenthema des ersten Quartettsatzes — die Zeit als geschlossener Zusammenhang von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und der Einbruch in diesen Zusammenschluß, das, was im Zusammenhang beschlossen ist und das, was hätte sein können und eine erinnerte Erfahrung, die im Zusammenhang nicht aufgeht — wurden in ihrer argumentativen Form (Verse 1-10) und ihrer Vergegenwärtigung dargelegt. Dabei und in der sofort einsetzenden Diskussion wurde immer wieder gelesen und zitiert, damit die Bedeutungsmomente, die den Themen aus der Dichtung zukommen – klanglich, rhythmisch, bildlich – nicht übersehen werden. (Eliot hat in diesem Zusammenhang von auditary imagination gesprochen.) Die Komplexität des Gedichts, die Verschmelzung von Denken und Fühlen, von Argumentation und Vergegenwärtigung eines Schauplatzes und Geschehens, die suggestive Klangwirkung und Rhythmik der Verse und die vielen Stimmen, die zusammen und gegeneinander sprechen, das alles wurde auf einmal zugemutet.
2. In einem zweiten Lektüreschritt wurde das große Bild in einer Strophe, »Garlic and sapphires in the mud« (Burnt Norton II) buchstabiert. Es ging dabei zunächst um den Aufbau eines symbolistischen Bilds, dann um die Gewinnung eines neuen Motivs im motivischen Gewebe der F. Q.: movement, pattern, dance, still point. Die negative Dialektik »at the still point of the turning world« und seine Verbindung mit der geschlossenen Zeit und dem Einbruch in ihren Zusammenhang wurde nur referiert, nicht in gemeinsamer Lektüre herausgearbeitet. Die blitzhafte (affirmative) Erfahrung des still point wird nicht trivialisiert und verfälscht; denn ihre unablösbare Kehrseite sind der Weg des Entzugs, der Entblößung, der Trockenheit der Sinne, der Entleerung – und noch das Ablassen von diesem Weg (Burnt Norton III).
3. Sind Zeit und Zeitlosigkeit — »only through time time is conquered« — Bewegung, Ruhe, Muster (pattern) und Tanz grundlegende Bestimmungen des Daseins in der Zeit, dann kann die Dichtung, die das Dasein meditiert, nicht referierend von außen darüber reden. Sie ist selbst betroffen. Sie spricht auch von sich: »Words move, music moves / Only in time; [...]«. Dieser Selbstbesinnung der Dichtung im Gedicht galt der nächste Schritt (Burnt Norton V). Reflexion der künstlerischen Tätigkeit ist ein Signum der Moderne. An den F. Q. läßt sich erkennen mit welch innerer Logik dies geschieht.
4. Meditiert ein Gedicht das Dasein in der Zeit, dann wird die Geschichte ihr Thema und zwar in doppelter Weise; a) einmal indem historische Ereignisse erinnert werden und die geschichtliche Zeitspanne jetzt, in der das Gedicht entsteht und gesprochen wird, im Gedicht auftaucht. (In Little Gidding I z. B. sind beide Epochen verbunden: die religiöse Gemeinschaft Little Gidding, die Nicholas Ferrar im 17. Jahrhundert begründet hat, der Besuch König Karls des I. (1642), Eliots Besuch des Ortes (1936) und seine Meditation über den Ort und diese Begebenheiten. Im zweiten und vierten Satz dieses Quartetts spricht er nur wenig verdeckt von seiner Tätigkeit als Feuermelder im zweiten Weltkrieg.) b) Zum anderen stellt sie ihre eigene Geschichtlichkeit dar. Ob sie es will oder nicht, ob sie es sagt oder vergißt, sie steht in der Tradition dichterischen Sprechens. Eliot, der mit seinen frühen Gedichten eine Revolution eingeleitet hat, reflektiert diesen Zusammenhang, indem er die F. Q. mit früherer Dichtung durchsetzt. Diese Aufnahme und Wiederholung ist eine Prüfung der Überlieferung, wie weit sie in der Einformung in ein neues Gedicht trägt, zum anderen setzt Eliot sich selbst der Konfrontation mit großer vergangener Dichtung aus. Diese Wiederholung und Konfrontation wurde an einigen wenigen Stellen gezeigt: an dem ausbuchstabierten Bild »Garlic and sapphires« und seinen symbolistischen Spuren (Mallarmé), an Zitaten aus der metaphysischen Dichtung des 17. Jahrhunderts (Daniel und Dr. Donne), aus der mystischen Prosa des 14. Jahrhunderts (The Cloud of Unknowing und Juliana of Norwich) und ausführlicher an der Begegnung mit einem Toten, die dem Leser zugleich die „höchstmögliche Entsprechung" wie den „Kontrast zwischen dem Inferno und dem Purgatorio, die Dante besuchte, und der halluzinierten Szene nach einem Luftangriff" vor Augen führen soll (Eliot, What Dante means to me). Die Beiden – der vorbildhafte Dichterkollege aus früheren Tagen/Bruno Latini und der Feuerwehrmann/Eliot – sprechen auf ihrem Kontrollgang über vieles, das in den F. Q. empfunden, durchdacht und dargestellt wird, dabei auch über das gemeinsame Anliegen ihrer Dichtung, den geschichtlichen Stand der Sprache: »to purify the dialect of the tribe«.
Mit dem Lebewohl des Dichterkollegen war es an der Zeit, die Annäherung an die F. Q. aufzugeben.