Galt in der Bundesrepublik seit der Verabschiedung des Grundgesetzes ein weitreichender Konsens über die Bedeutung der Menschenwürde, so häufen sich seit etwa 10 Jahren die Stimmen, die eine Neuinterpretation der Menschenwürde für nötig erachten. War bislang die sogenannte „Objekt-Formel" als Inhalt der Menschenwürde anerkannt, nach der es ein Verstoß gegen die Menschenwürde sei, wenn jemand nur als Mittel und nicht selbst als Zweck einer Handlung behandelt wird, so möchten namhafte Juristen (wie Horst Dreier, Matthias Herdegen und eine Reihe jüngerer Fachvertreter) die Menschenwürde für Abwägungen öffnen. Diese Versuche bewegen sich auf argumentativ schwacher Basis. Die Menschenwürde wird zudem als Eigenschaft vorgestellt, so wie man andere Eigenschaften haben kann oder nicht. Der Vortrag entwickelte hingegen den Begriff einer reflexiven Menschenwürde. Danach bestimmt die Anerkennung der Menschenwürde eines anderen meine eigene Würde. Die freie Anerkenntnis der Würde des anderen ist der Ausdruck meiner eigenen Würde. Deren Inhalt ist nämlich die Freiheit, die sich in der Fähigkeit zur freien Gabe realisiert. Danach ist die Würde des anderen gerade nicht von dessen Eigenschaften abhängig, sonst wäre sie nur bedingte Würde beziehungsweise unfreie Freiheit.