Der Begriff Berechenbarkeit hat viele Facetten. In Bezug auf den menschlichen Charakter kann berechenbar einfach, einfältig und langweilig bedeuten; unberechenbar dagegen kreativ und ungewöhnlich. Es könnte aber auch genau das Gegenteil der Fall sein, denken wir an an den politischen menschlichen Charakter: Berechenbar bedeutet hier stabil und verlässlich, unberechenbar dagegen brandgefährlich.
Berechenbarkeit in der Mathematik
Der Begriff Berechenbarkeit hat seinen Ursprung in der Mathematik: berechenbar ist zuallererst das, was wir ausrechnen können. Zentraler Begriff ist hier der Algorithmus: eine Handlungsvorschrift, die nach endlich vielen wohldefinierten Schritten ein Ergebnis liefert. Der formale mathematische Beweis ist in dieser Hinsicht nichts anderes als eine Berechnungsvorschrift, die beginnend mit Axiomen mithilfe logischer Schlussweisen einen mathematischen Satz ausrechnet.
Der Mathematiker David Hilbert war von der Notwendigkeit der »Löslichkeit eines jeden mathematischen Problemes« überzeugt: in der Mathematik dürfe es kein »Ignorabimus« geben. Noch im Jahr 1930 vertrat er während einer Radioansprache diese These. In den Arbeiten von Kurt Gödel von 1931 und Alan Turing von 1936 wurde dies jedoch endgültig widerlegt. Die Beweisidee liefert das
Pinnochio-Paradoxon
Es ist allgemein bekannt, dass Pinnochios Nase wächst, wenn er lügt.
Was passiert nun, wenn Pinnochio sagt: »Meine Nase wächst gerade.«?
Eine logische Analyse zeigt unschwer: Pinnochios Nase wächst genau dann, wenn sie nicht wächst.
Sowohl in den Gödel’schen Unvollständigkeitssätzen als auch in Turings Entscheidungsproblem sind solche selbstreferenziellen Aussagen (»Meine Nase wächst gerade.«) möglich. Damit gibt es Aussagen, die innerhalb der Theorie weder bewiesen noch widerlegt werden können.
Berechenbarkeit in der Physik
Während die in der Mathematik gewonnenen Berechnungen absolut präzise und unabhängig sind, werden in der Physik Berechnungen im wesentlichen auf Basis von zwei erheblich unschärferen Verfahrensweisen erzielt: dem Experiment und der Simulation. Entscheidend ist das Berechnungsmodell. Alles, was durch (wiederholte) Experimente gemessen wird und in Simulationen mit unterschiedlichen Anfangsbedingungen erzeugt wird, wird im Modell idealisiert; dort werden dann Naturgesetze postuliert, die genau solange ihre Gültigkeit besitzen, bis sie jemand »falsifiziert« (Karl Popper). Die Physik besitzt somit keinen eigenen Wahrheitsbegriff.
Berechenbarkeit in der Rezeption: die musikhörende Seele
Gottfried Wilhelm Leibniz schreibt über Musik: »Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animae.« [Die Musik ist eine dunkle oder verborgene arithmetische Übung oder Tätigkeit der Seele, die nicht weiß, daß sie zählt.]. Erstaunlicherweise rechnen wir also auch unbewußt: berechnet werden Perioden, Phrasen, Intervalle. Wir hören auf etwas hin. Das ist kein analytisches Hören! Würden wir nicht immer wieder unbewußt das Gehörte zueinander in Relation setzen, also berechnen, dann würden wir keine Musik hören können, und alles wäre nur Geräusch.
Berechenbarkeit beim Menschen
Wir Menschen wollen etwas, wir haben Ziele und Zwecke (im Gegensatz zur Physik). Deshalb wird der Begriff Berechenbarkeit hier nochmals unschärfer. Der gute Mensch entwickelt richtige Haltungen und wird dadurch tugendhaft. Dadurch bildet er einen bestimmten Charakter aus. Und er ist in einer gewissen Weise auch berechenbar. Natürlich nicht vollständig. Das ist immer noch eine Sache der Freiheit. Stellen wir uns unser Leben als eine Reihe physikalischer Experimente vor. Wir kennen nicht alle Parameter und Variablen des Experimentes, und vor allem: wir greifen ständig ein, wir beurteilen und entscheiden anstatt zu messen, d.h. wir sind nicht neutral. Somit ist das menschliche Leben kein physikalisches Experiment.
Beispiel Stau
Stau entsteht, wenn auf einer 10km langen Autobahn mehr als 200 Autos fahren. Dies wissend, fährt man am Samstag früh morgens los, statt am Freitag nachmittag. Da das jedoch alle so machen, steht man unvorhergesehenerweise am Samstag früh im Stau. Dies ist wiederum ein Beispiel für Selbstreferenz.
Beispiel Ultimatum-Spiel
Zehn Euro werden aufgeteilt, A bestimmt die Aufteilung, B kann entscheiden, ob er das Angebot annimmt (die Beträge werden ausgezahlt) oder ablehnt (es wird nichts ausgezahlt). Rein ökonomisch müsste A 9,99 zu 0,01 teilen und B auf jeden Fall annehmen. Spielt man das Spiel aber tatsächlich, wird es in der Regel völlig anders ablaufen. Anscheinend ist es so, dass wenn man ein Angebot für unfair hält (ohne dies genau zu spezifizieren), man dieses ablehnt, obwohl es ökonomisch gesehen sinnvoll gewesen wäre.
Beispiel Kreativität
»Vorhersagen sind außerordentlich schwer, vor allem solche über die Zukunft« (Niels Bohr). In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren Pferde das gebräuchlichste Verkehrsmittel. Durch lineare Interpolation hat man berechnet, dass New York spätestens Mitte des kommenden Jahrhunderts im Pferdemist versinken müsste. Doch dann erfand 1885 Carl Friedrich Benz kurzerhand das Automobil; er hat eine Erfindung gemacht. Er war kreativ. Und Kreativität entzieht sich in gewissen Bereichen der Berechenbarkeit.
Berechenbarkeit in der Kunst
Der Begriff der Berechenbarkeit findet sich auch in der Kunst. Was macht eine Bachfuge zu Kunst? Sicherlich kann man sie nicht komplett algorithmisch berechnen. Aber dennoch besitzen sie ein hohes Maß an Geordnetheit also Berechenbarkeit. Sie ist sowohl durch Notwendigkeit (Berechenbarkeit) als auch Freiheit gekennzeichnet.