Ich will das mir gestellte, umfassende Thema mit einigen begrifflichen Vorüberlegungen beginnen. Ich schlage drei Konzeptionen der Menschenrechte vor: Von den nationalen Konzeptionen des ausgehenden 18. Jh. (Virginia, amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Französische Revolution) runterscheiden sich die heute dominierende internationale Konzeption des internationalen Rechts und eine, im Zuge der Globalisierung zu fordernde transnationale Konzeption.1 Ebenso lassen sich die höchst unterschiedlichen Verwendungsarten des Begriffs „Würde“ nach drei Arten ordnen: Erstens sprechen wir von sozialen, besonderen Würden (im Plural), die einigen Menschen auf Grund besonderer Leistungen oder verbunden mit ihren sozialen Status zugeschrieben werden. Zweitens können wir davon Konzeptionen ethisch oder religiös bestimmte, allgemeine „Würden“ unterscheiden, die allen Menschen je nach Konzeption auf Grund unterschiedlicher Annahmen (Stellung im Kosmos, Vernunftfähigkeit, imago dei, Fähigkeit zur Selbstkreation, moralische Autonomie etc.) zugesprochen werden. Mit beiden Arten sind Verpflichtungen gegenüber sich selbst und der Instanz, die die „Würde“ verleiht oder stiftet, verbunden. Sie sind mit sozialen Ungleichheiten kompatibel, aber führen nicht zum Haben von Rechten. Von diesen Konzeptionen besondere und allgemeiner „Würden“ unterscheidet sich die nach 1945 im Kontext der internationalen Menschenrechtsdokumente entworfene menschenrechtliche Würde-Konzeption, die ich „ Menschenwürde“ nenne. Um deren politische Wirkung soll es hier gehen.
In der Gründungsphase der Vereinten Nationen (1945) wollten die Siegermächte zunächst keine Menschenrechtserklärung. Erst auf Druck von unterschiedlichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und gemäß ihren je besonderen Staatsinteressen stimmten sie einer (rechtlich nicht verbindlichen) Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, 1948) zu, in der zum erstmal der Begriff Würde im Kontext von Menschenrechten auftaucht.2 Sie ist (im Unterschied zu den beiden anderen Arten von „Würden“) nicht mit Pflichten-gegen-sich verbunden und wendet sich gegen soziale Ungleichheiten und Ungleichbehandlungen. Erst seit denInternationalen Menschenrechtspakten von 1966 (und vorweg schon im Deutschen Grundgesetz von 1949) wird diese neue Konzeption von „Menschenwürde“ als Begründung für das Haben von Menschenrechten statuiert. „Würde“ ist nun ein in rechtlichen Kontexten gebrauchter Begriff, der in politischen Erklärungen (Verträgen und Verfassungen) rechtlich gesetzt wird, aber hinsichtlich seiner normativen Behauptungen (selbstverständlich) moralischer Begründungen bedarf. Weil „Menschenwürde“ nun die Menschenrechte fundiert, ist sie, formal gesehen, wie die Menschenrechte zu bestimmen: universell, egalitär, individuell und kategorisch. D.h. allen Menschen kommt individuell und in der gleichen Weise „Menschenwürde“ zu, nur weil sie Menschen sind. Diese formalen Charakteristika wären aber leer, wenn der „Menschenwürde“ nicht auch inhaltliche Bestimmungen zugeschrieben werden können. Welche sind es? Und welche politische Bedeutung kommt ihnen zu?
Schaut man sich die entsprechenden Dokumente (Internationale Menschenrechtspakte, Europäische Grundrechtscharta, nationale Verfassungen) an, so kann man folgende inhaltliche Bestimmungen unterscheiden: Gleichheit, Freiheit und „angemessener Lebensstandard“.3 Von diesen formalen und inhaltlichen Charakteristika der „Menschenwürde“ her erschließt sich ihre politische Brisanz.4
„Menschenwürde“ als Gleichheit. Die Annahme der wertmäßigen Gleichheit aller Menschen ergibt sich negativ, als Resultat des Ausschlusses von Argumentationen, die eine grundlegende ungleiche Wertigkeit behaupten. Mit der grundlegenden wertmäßigen Gleichheit aller Menschen wird auf ihren grundlegenden gleichen Rechtsstatus als Träger und (Mit-)Autor von Rechten geschlossen. Die Annahmen, auf die sich die Vertragsstaaten des Völkerrechts wechselseitig verpflichten, sind als Antworten auf die rassistischen Diskriminierungen, die Entrechtung von Minderheiten und die barbarischen Grausamkeiten der totalitären Diktaturen, aber auch der Kolonialmächte, zu verstehen. Sie ermöglichen allen Menschen, ob Staatsbürger, Fremdbürger, Staatenlosen und Flüchtlingen eine gleiche Selbstachtung als Träger von Menschenrechten, und sie opponieren mit der republikanischen Forderung, auch aktive Bürgerrechte wahrzunehmen5, gegen einen politischen Paternalismus, der Rechte nach Staatsräson und vom Staat definiertem Gemeinwohl her verleiht oder entzieht.
Die politische Brisanz dieser Gleichheits-Aspekte des Menschenwürde zeigt sich in grundlegenden Diskriminierungsverboten: Z.B. sind Männern und Frauen gleich zu behandeln und gleich zu stellen. Die jüngsten Auseinandersetzungen um die „rechtliche Gleichstellung der Ehe zw. gleichgeschlechtlichen Partnern“ zeigt die Aktualität dieser Brisanz ebenso wie die Forderung, dass die Anerkennung als gleiche Rechtsperson auch für Asylbewerber und Flüchtlinge gilt. Wird daher einem Menschen grundsätzlich ein Menschenrecht vorenthalten, nur weil er Mitglied in einer differenten Gruppe, und wird ihm damit prinzipiell die Trägerschaft eines Menschenrechts abgesprochen, so ist das nicht nur eine Verletzung seines jeweiligen Menschenrechts, sondern auch seiner Menschenwürde.
„Menschenwürde“ als Freiheit: Die allen Menschen zugeschriebene Menschenwürde unterstellt ihnen die Fähigkeit zu überlegter Selbstbestimmung (Willkürfreiheit) und ermöglicht ihnen ein individualisierendes Freiheitsbewusstsein. Dadurch wird jedem Menschen ein anerkannter Status als nichtersetzbares, selbstverantwortliches Subjekt zugeschrieben. Politisch stockt sich dieses Freiheitsbewusstsein zu dem Bewusstsein auf, ein freier Bürger (Staatsbürger/Weltbürger) zu sein. Auch in dieser Hinsicht opponiert die Menschenwürde gegen den Paternalismus einer autoritären Wohlfahrtsdiktatur.
Die politische Brisanz des Freiheitsaspektes der Menschenwürde zeigt sich zuvorderst bei der Nichtanerkennung und -beachtung der Autonomie eines Menschen; klassische Fälle sind Zwangsheiraten, Sklaverei oder staatliche Folter. Neue und umstrittenere Fälle sind Forderungen nach der Beachtung der Patientenautonomie oder der Beachtung, aber auch Förderung und Schutzes der relativen Autonomie von Kindern gemäß der Kinderrechtskonvention. 6 Schließlich zeigen Diskussionen um ein selbstbestimmtes Sterben, die vielfältigen Konflikte um Gewissens- und Religionsfreiheit und die neue Forderung nach einem Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, wie unabgeschlossen die Ausbuchstabierung dieses Aspektes ist. Und ganz aktuell zeigen die gravierenden Verletzungen der Rechte auf Meinungs- Versammlungs- und Informationsfreiheit durch immer autoritärer werdende Staaten (China, Russland, Türkei, aber auch SaudiArabien etc.), wie sehr diese klassischen Freiheitsrechte nicht nur den einzelnen Menschen schützen, sondern auch notwendige Bedingung für eine gut funktionierende Demokratie sind. Auch hier zeigt der Freiheitsaspekt der Menschenwürde einen republikanischen Stachel.
„Menschenwürde“ als Leben-können. Dank der sozialistischen Traditionen, die ein durch Arbeit ermöglichtes „würdevolles Lebens“ (z.B. Lassalle) forderten, ist der nach-1945-ziger Würdebegriff im Unterschied zu den vorherigen allgemeinen Würdebegriffen um eine soziale Komponente erweitert worden. Nun umfasst Menschenwürde inhaltlich den ganzen, auch körperlich/sozialen, bedürftigen Menschen, dessen Würde nun einen „angemessenen Lebensstandard“ und in selbstverantwortlicher Sorge ein Leben in Würde einfordert. In dieser Hinsicht mitbegründet die Menschenwürde nun die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (wsk-) Menschenrechte. Weil aber diese Rechte (übrigens wie die anderen Menschenrechte auch) Achtungs- Schutz- und Hilfspflichten generieren, verlangen die Bestimmungen eines angemessenen Lebensstandards und die der prominent positiven Pflichten der wsk- Rechte politische, demokratische Abwägungen und Entscheidungen. Schon diese Aufgaben sind politisch höchst umstritten, wie Diskussionen um Minimalstandards menschenwürdigen Lebens, z.B. für Flüchtlinge und Asylbewerber zeigen. Aber auch in anderen Hinsichten und Fällen zeigt sich die politische Brisanz dieser Komponente: Sind national auftretende Armut und durch Globalisierungsprozesse verursachte absolute und auch relative Armut nicht eine Menschenwürdeverletzung und wer ist dadurch zu was verpflichtet? Die völkerrechtlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung beschränken sich hier häufig auf freiwillige Hilfsprogramme, statt dass sie, wozu sie mit moralischen Argumenten von NGOs gedrängt werden, Armut als Menschenwürdeverletzung und dann menschenrechtlich konzipieren, um allen Menschen ein Leben in Würde zu gewährleisten. Und auch hier opponiert der Würdebegriff gegen einen helfenden Paternalismus, und fordert Entwicklungshilf als Hilfe zur Selbsthilfe und langfristige Armutsbekämpfung durch Demokratisierung der entsprechenden Staaten (A. Sen).
In all diesen Fällen (hinsichtlich Gleichheit, Freiheit und Leben-können) ist aber die Menschenwürde nicht direkt ein Menschenrecht, sondern fungiert als Begründung für das Haben der Menschenrechte und umreißt dabei einen Kernbereich der Menschenrechte, indem sie auch durch andere, entgegenstehende Menschenrechte nicht eingeschränkt werden dürfen, oder, weil eine Verletzung des Menschenrechts unmittelbar eine Würdeverletzung wäre (wie im Falle der Folter), auch im Notstandssituationen nicht eingeschränkt werden dürfen. Politisch freilich sind diese Schlussfolgerungen aus der „Verrechtlichung“ der Menschenwürde höchst umstritten, da sie letztlich mit dem traditionellen Souveränitätsanspruch der Staaten in Konflikt stehen, und eine neue Balance zwischen Menschenrechten und Menschenwürde auf der einen Seite und Demokratie auf der anderen fordern.
1 Zu diesen Konzeptionen siehe ausführlicher Georg Lohmann, Different Conceptions and a General Concept of Human Rights, in: Fudan Journal of the Humanities and Social Sciences , Springer Berlin Heidelberg, September 2015, Volume 8, Issue 3, pp 369-385.
2 G.Lohmann, „Menschenrechte“ angesichts ihrer Geschichtlichkeit. Über: Jan Eckel. Die Ambivalenz des Guten, in: DZPhil 2016, 64 (3): 465-479.
3 Ausführlicher siehe G. Lohmann, Was umfasst die „neue“ Menschenwürde der internationalen Menschenrechtsdokumente? in: Daniela Demko/ Kurt Seelmann/ Paolo Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beihefte 142, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015, S.15-39.
4 Zu einzelnen Streitpunkten siehe auch die entsprechenden Artikel in: Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Arnd Pollmann, Georg Lohmann, J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar 2012,466 S.
5 G.Lohmann, Welchen Status begründet die Menschenwürde? in: RphZ – Rechtsphilosophie. Zeitschrift für Grundlagen des Rechts, 2015/2, S. 170-186.
6 G.Lohmann, Wohl und Würde. Zum antiautoritären Charakter der Bestimmung des Kindes in der Kinderrechtskonvention Erscheint in: Berliner Debatte Initial,2/ 2017