Der Vortrag thematisierte die 1999 bei Reclam Stuttgart erschienene Studie »Selbstbestimmung, Das Prinzip der Individualität« des Berliner Philosophen Volker Gerhardt.
Als anthropologisch begründete Ethik ist Gerhardts Versuch der Philosophie des Lebens zuzuordnen. Damit wählt Gerhardt einen ähnlichen Horizont wie Hans Jonas in »Organismus und Freiheit«: Insofern nach Jonas Freiheit zum Kennzeichen des Lebendigen schlechthin wird, kann der Mensch als Geist-Wesen einbezogen werden in eine nicht-deterministische Philosophie des Lebendigen. Und weil Freiheit die Frage nach dem, was wir tun sollen, aufwirft, werden Ethik und ihr Maßstab zu Momenten der Philosophie des Lebendigen.
Aber anders als Jonas verlegt Gerhardt den ethischen Maßstab des Handelns nun nicht in die Natur oder das Sein, sondern in das Selbst des Menschen selbst, und zwar deshalb, weil wir den »Bannkreis unseres eigenen Selbstbewußtseins« nicht durchbrechen könnten. »Das Leben wird sich selbst bewußt – aber eben nur an uns selbst.«
Wo Gerhardt Jonas nicht mehr folgen kann, da knüpft er an die Anthropologie von Helmuth Piessner an. Maßgeblich ist hier vor allem die mit der »exzentrischen Positionalität« des Menschen verbundene Labilität wie auch ihre ursprüngliche Sozialität: Der Zwang, sein Leben führen zu müssen, führt zur ethischen Zentralfrage: »Was soll ich tun?«. Gerhardts Antwort, mit der er über Plessner hinaus geht und einen eigenen kategorischen Imperativ formuliert, lautet: »Sei du selbst!«. Mit dieser Formel spricht Gehardt keineswegs dem Egoismus das Wort. Denn dieses Selbst ist im Sinne Plessners, der in der exzentrischen Positionaltiät die Mitwelt ursprünglich verankert sieht, von sich aus bereits »soziomorph«, ihm eigne eine »implizite Publizität«.
Die von Gerhardt geforderte Sorge um das Selbst erscheint nun angesichts von tiefgreifenden Pluralisierungen in modernen Gesellschaften hinsichtlich der unterstellten Identität problematisch. Mit Wilhelm Schmid (»Philosophie der Lebenskunst«) könnte man gegen Gerhardt einwenden: Wenn sich das Selbst als einiges und identisches begreift und organisiert, so handelt es lebensfeindlich; weil es zu einer gleichsam tödlichen Erstarrung tendiert. Demnach gilt der Imperativ, sich kein Bildnis zu machen, selbst für das eigene Selbst. Auch das Konzept der Transversalität von Wolfgang Welsch scheint die Forderung zu einer Öffnung des Selbst unter Einbeziehung interner Widersprüchlichkeiten zu legitimieren.