(Textgrundlage war die kritische Ausgabe von Hans Walter Gabler und Walter Hettche, Routledge, London und New York 1993, reprinted 2008, ferner die Übersetzung, Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, von Friedhelm Rathjen, Manesse Verlag, Zürich 2012. Literaturangaben wurden den zweisprachigen Textauszüge beigefügt.)

A Portrait of the Artist as a Young Man ist ein Entwicklungsroman. Es wird szenisch erzählt, sprunghaft und ohne daß ein Erzähler die Szenen zu einem Kontinuum verknüpfte, wie Stephen Dedalus von seiner frühen Kindheit an die äußere Wirklichkeit für sich gewinnt. Da sind zunächst das Elternhaus, die Familie und ihr Lebensraum mit den Spielkameraden und den Dingen und Tieren und Orten, dann die Schule, das Internat, Momente aus dem kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben, in das er hineinwächst und schließ-lich die Universität. Zugleich aber wird sichtbar, was sich in ihm abspielt, was er erlebt und empfindet, erstrebt, erleidet und vehement ablehnt und in welche Konflikte er – bedingt durch seine charakterliche Eigenart und gemäß seiner jeweiligen Entwicklungsstufe – gerät.

Wie läßt sich die Verschränkung von äußerer, erlebter Wirklichkeit und innerem Erleben darstellen? Ein psychologischer Bericht würde Stephen Dedalus, bei aller möglichen Empathie, von außen sehen und sein Erleben – über seinen Kopf hinweg – benennen, schildern und aus einem Wissen und einer Sprache, die nicht seine sind, erläutern und deuten. Auch eine psychologische Beschreibung, die sich enger an das Erleben hielte und in einer phänomenologischen doppelten Beschreibungsrichtung den schrittweisen Gewinn äußerer Wirklichkeit mit den entsprechenden Erlebnissen und inneren Vorgängen (den passiven und aktiven Leistungen) verknüpfte, ginge doch noch über den Kopf des Erlebenden hinweg. Der Erlebende kann im Erleben nicht zugleich zu sich zurückgehen, geschweige denn die Korrespondenz von erlebter Wirklichkeit und Erlebnisakten reflektieren und beschreiben. In unserem Roman jedoch steht Stephen Dedalus nicht nur im Zentrum, er ist das Zentrum: von ihm aus soll erzählt werden. Was er erlebt, fühlt, denkt und tut wird, so weit wie möglich, von ihm selbst her und nicht von außen gesehen. Hieraus resultieren Reiz und Problematik der Erzählweise des Romans.

Wie kann vom Erlebenden her erzählt werden, wenn er in seine Erlebnisse versunken ist? Bedarf es nicht einer wie auch zarten Differenz, über die er nicht verfügt? Wie können kindliche Erfahrungen vermittelt werden, in denen der kleine Bub sprechen lernt, nachspricht und nachahmt, durchaus mit Variationen und in kreativer Aneignung, was er hört? Wie können die Turbulenzen der Pubertät, in die Stephen gerät und versinkt, von ihm her erzählt werden? Dies gilt auch von dem Versuch, sein Erleben in (stammelnde) Verse zu fassen und von dem Rausch, in dem er sein erstes gelingendes Gedicht schreibt, ein Gedicht das seine erotischen Erfahrungen und sein Verhältnis zu Emma Clearing, der kindlichen Spielkameradin, der reizenden, geliebten und begehrten Schulfreundin und schließlich fremden Studienkollegin, zu fassen vermag.

Ein Erzähler würde die Szenen seines Entwicklungsganges aus einer gewissen Distanz und Übersicht darstellen, die es ermöglichen, daß Erleben überhaupt vermittelt werden kann. Die Spielräume auktorialen Erzählens, z. b. der Gedankenbericht in indirekter Rede (»fühlte er« »dachte er bei sich«), Vergleiche und Verbildlichungen und eine wie auch immer verdeckte Kommentierung und Deutung erlaubten es ihm, Stephen in den verschiedenen Entwicklungsstufen erscheinen zu lassen. Er verfügt – in anderer Weise als der psychologische Berichterstatter und der phänomenologische Beschreiber – über eine Sprache, die Erlebnisse und die in ihnen gewonnenen Züge der Wirklichkeit zu sagen und, wie schwierig und vorläufig auch immer, zu reflektieren. Unvermeidlich spricht er dabei über den Kopf des Erlebenden hinweg, denn das unmittelbare Erleben und seine Welterfahrung können sich nicht selbst ausdrücken. Der Erlebende und was er erlebt und sagen kann sind zu eng verschränkt. Es bedarf folglich einer Erzählweise, die dem Erleben und der Sprache des Erlebenden etwas voraus ist, ohne über sie souverän hinweg zu gehen. Unvermittelt lassen sich die Szenen dieses Porträts nicht erzählen – vermitteln. (Die Aussage ist tautologisch.) Sollen sie vermittelt werden, dann bedarf es einer Erzählweise, die nicht auktorial verfügt, erfaßt, deutet, sondern sich (immer wieder) unmerklich macht und in der unumgänglichen Differenz und Distanz bei dem Erlebenden und seinem Sprachvermögen bleibt. Ändern sich die Erfahrung und das Sprachvermögen von Szene zu Szene im Entwicklungsgang unseres Helden, dann ändert sich entsprechend auch die vermittelnde Erzählweise. So findet sich die zarte Distanz, die das Erleben, die Welt und das Sprechen des Kindes im ersten Kapitel faßlich macht, nicht mehr in den weiteren Szenen des Romans. Die erzählerische Vermittlung des Weihnachtsessens, bei dem Stephen die bösen Spannungen im Familienkreis erlebt, verständnislos betroffen, verstrickt (ohne daß er sie als konfessionelle, politische und gesellschaftliche Gegensätze fassen könnte), unterscheidet sich wiederum von den Dialogszenen, in denen Stephen und seine Schul- und Studienfreunde direkt mit einander sprechen, streiten und sich Persönlichstes mitteilen.

Wird vom Erlebenden her erzählt, dann ändern sich die Differenz und Distanz – das jeweilige erzählerische Medium – von Szene zu Szene. Es gibt keine einheitliche Erzählperspektive, die die Szenen verbände. Die Medien lassen sich nicht auf eine Erzählinstanz beziehen. Das Portrait hat keinen Erzähler, vielmehr wechselnde, unterschiedliche Erzählmedien.

Unser Vorgehen war einfach. Es wurden Abschnitte gemeinsam gelesen, besprochen, zuweilen mit konkreten erzähltechnischen Erläuterungen, weitere Szenen in Inhaltsangaben gerafft wiedergegeben und so weiter durch den Roman hindurch. Wir ließen uns genau auf den Inhalt dieser Entwicklungs- und Befreiungsgeschichte ein, d. h. wir folgten der intimen Darstellung, den wechselnden Medien und achteten auf die Übergänge/Umschläge von auktorialen Abschnitten zu personal erzählten – Stephens Freundin Emma z. B. erscheint wieder und wieder, völlig unvermittelt als She/her und Stephen selbst dann als I/me/my – vom Gedankenbericht zur erlebten Rede, von den vielfältigen Dialogen zu den erzählten und (ansatzweise) stillen Monologen bis um reflektierten Monolog des Tagebuchs am Ende des Buchs. Ein besonderes Augenmerk galt dem Sprechenlernen und der Erfahrung, wie Worte und Dinge und Sachverhalte differieren und doch nur zusammen gelernt und erfaßt werden können. Anlaß dazu boten die Worte suck; cold and hot; kiss; smugging und smug, die den Schüler irritieren, die frühen Gedichtversuche und Stephens Nachdenken über die irische und englische und sein Ringen um die eigene dichterische Sprache. Zu kurz kamen leider die Gespräche über Thomas von Aquins Bestimmungen der Schönheit, die Stephen aufnimmt und zu einer Charakterisierung des autonomen Kunstwerks umformt.