Neid ist ein Gefühl, von dem ca. 70 % der Menschen zugeben, es zumindest gelegentlich zu empfinden. Eben so viele behaupten, wir lebten in einer Neidgesellschaft. Diese empirische Ausgangslage motivierte den Vortragenden, das gleichsam omnipräsente Gefühl vor allem phänomenologisch und ethisch-soziologisch unter die Lupe zu nehmen.
Unter Verwendung des Differenzierungsinstrumentariums der aristotelischen Ethik und Rhetorik wurde Neid als reaktiver Affekt beschrieben, der auf zwei Urteilen basiert: Zunächst erfolgt ein Vergleich, bei dem der Neider zwischen sich und dem dann Beneideten eine Differenz beobachtet, die im Widerspruch zur ansonsten festzustellenden sozialen Gleichheit steht. Damit verbunden ist zweitens das Werturteil, dass diese Differenz für den Neider unangenehm, kränkend oder auch ungerecht erscheint. Gegenstand des Neides kann im Prinzip alles sein, bei uns vor allem Materielles. Aber nicht die fehlenden Dinge selbst machen unzufrieden und neidisch, sondern die Gefühle, die mit ihrem Nichtbesitz verbunden sind. Dies verweist auf das Neidsubjekt: Es ist besonders neidanfällig, wenn sein Selbst geschwächt ist. Der eigentliche Affekt, der bei den genannten Dispositionen und den Urteilsakten erfolgt, realisiert sich in leiblicher Sprache. Als Beispiel wurden die Reaktionen von Josefs Brüdern in der Romangestaltung von Thomas Mann genannt: »bleich und rot und lippennagend« hätten diese auf Josefs Erzählung des Garbentraums reagiert.
Mit Neid werden üblicherweise die Farben Gelb und Grün assoziiert, wie etwa im Märchen »Schneewittchen«. In der Regel ist damit ein Neid von größerer Intensität gemeint. Er frisst sich gleichsam in den Leib hinein und beeinträchtigt Stoffwechselprozesse, so dass etwa die Gallenflüssigkeit nicht mehr richtig abfließen kann und die Haut gelblich bis grünlich scheinen lässt. Das Attribut »schwarz« begegnet heute nur noch selten; es steht für die extremste Form des Neides, die bis zur Selbstvernichtung führen kann, wie dies etwa in einer Radierung von Jacques Callot und anderen Darstellungen sinnfällig wird.
Die Verwendung des Begriffs »Neidgesellschaft« als Vorwurf der sozial besser Gestellten an die weniger bemittelte Mehrheitsgesellschaft ist mit Geißler kritisch zu hinterfragen. Mit dem Begriffswort werde häufig Sozialabbau tabuisiert. Nach Afheldt ist seit gut 20 Jahren festzustellen, dass die Einkommen aus Vermögen stetig zunehmen, ohne dass dies einem Zuwachs der Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit entspräche. Der Prozess zunehmender Ungleichheit ist nach Rawls aber erträglich nur dann, wenn die weniger Begünstigten auch vom Wachstum profitieren würden.
Eine solche Gerechtigkeitslücke in der Marktwirtschaft verhindert die Entfaltung einer Dynamik, die der positiv bewerteten Variante des Neides eigen ist. Schoeck bezeichnet sie als »wertvermehrende[s] Konkurrenzverhalten[.]« und unter Wirtschaftswissenschaftlern wird sie »weißer Neid« genannt: »Hat der Nachbar ein schöneres Haus als ich, so spornt mich der weiße Neid an, für mich selbst schnell ein noch schöneres zu bauen. Der schwarze Neid dagegen nährt meine Hoffnung, das schöne Haus des Nachbarn werde bald niederbrennen.«