Die lakonische Titelangabe wies darauf hin, daß wir uns mit Shakespeares Sonetten in der Ausgabe von 1609 befassen. Zum Einlesen war die zweisprachige Anthologie aus dem Verlag Reclam empfohlen worden. Zugrundegelegt wurde die Ausgabe von Katherine Duncan-Jones in der Reihe »The Arden Shakespeare« (1997). Sie führt in die Textgeschichte der Sonnets ein und gibt in den Kommentaren zu jedem einzelnen Sonnet Worterklärungen, Querverweise auf die anderen Sonnets und das epische und dramatische Werk. Zur weiteren Beschäftigung wurde Helen Vendlers Buch »The Art of Shakespeare’s Sonnets« (Harvard University Press, 1997) empfohlen. Ich folgte ihrem Beispiel und stellte jedes besprochene Sonnet im Druckbild der Ausgabe von 1609, einer modernen Textversion und zusätzlich in einer deutschen Übersetzung vor. Diese drei Textfassungen wurden projiziert und in Ausdrucken vorgelegt.
Die Gedichte wurden laut gelesen, womöglich wiederholt, darauf folgte ein (möglichst) genaue Übersetzung und Inhaltsparaphrase. Damit war der Anfang der Interpretation gemacht. Hier galt es Satz- und Wortbedeutungen, die logischen Spiele und rhetorischen Figuren, die Bilder und den Schmuck der Rede mit dem Satzbau, der Wortfolge, dem metrischen Muster und seinen Variationen, den Gliedern der Sonettform, der Phrasierung der Verse und ‘Strophen’, dem wechselnden Tonfall, den Klängen, Reimen und Echos und eventuell der graphischen Erscheinung ineinszubilden. Wir haben versucht, alle diese Züge funktional zu lesen. Bei diesen Interpretationsgängen wechselten Vortrag und Gespräch einander ab.

Verlaufsskizze

  1. SHAKE-SPEARES / SONNETS. / Neuer before Imprinted. / ... 1609
  • Einführung in den Text und die Ausgabe
  • Die Großgliederung des Textes [young man – dark lady – the rival poet] und Shakespeares Stellung in der Tradition der Sonettdichtung
  1. Einführung in die Form der Sonnets
  • Was ein Shakespearesches Sonnet nicht ist
  • Anhand des Prologs zu »Romeo und Julia« und des Dialogs der Liebenden (I,5,95-108) wurde das Gedichtschema erinnert. [Textinterpretation 1] Die Form des Sonnets ist für eine entwickelnde Darstellung günstig. Im Prologsonnet wird das Drama vorweg erzählt (und werden die Zuschauer angeredet). Das Dialoggedicht ist der Text und die Handlungs- und Regieanweisung einer Szene, die zu einer dramatischen Handlung gehört.
  • Was es ist

In den Sonnets gibt es weder Erzählungen (die Versuche, sie zu einem Roman auszuführen sind gescheitert), noch dramatische Handlung, wohl aber Entwicklung. Es geht in (fast) jedem Sonnet um die Entfaltung einer inneren Dynamik im Fühlen und Denken, um die Entwicklungen von Empfindungen und Gedanken eines einsamen Sprechers. Bei aller inneren Dramatik, die solche Entwicklungen zeigen können, sind die Sonetts doch meditativ. Wir machten uns folgendes zur Faustregel: jede sprachliche Veränderung in den Zeilen, den drei Vierzeilern (quatrains), dem abschließenden Verspaar (couplet) entspricht einer Veränderung des Fühlens und Denkens. Umgekehrt gesagt: wenn wir eine Veränderung des unterscheidenden Erkennens (vom Stimmungswandel, dem inneren Zwist bis zur Einsicht und dem distanzierenden Urteil in den abschließenden Zweizeilern) spüren, müssen wir zusehen, wie sie sprachlich hergestellt werden.

  1. Textinterpretation der (bekannten) Sonnets
  • 18 (Shall I compare thee),
  • 73 (That time of yeare),
  • 116 (Let me not to the marriage),
  • 129 (Th’expence of Spirit)

(mit Überlegungen zur Architektur der Sonnets und Bemerkungen zur Seinsweise des lyrischen Gedichts).