Die Einleitung des in zwei Teilen gehaltenen Vortrags enthielt Informationen zum beruflichen Werdegang Gérard Griseys (1946-1998) und zu den musiktheoretischen Grundlagen der „musique spectrale“, deren wichtigster Vertreter Grisey war. Weitere Informationen betrafen die Großform und die Besetzungsordnung des 1997/98 entstandenen Werks für Sopran und fünfzehn Instrumentalisten.
Die Texte für seine vier Gesänge (denen er analog formulierte Titel gab) entnahm der Komponist
- der Gedichtsammlung eines verstorbenen Freundes, Chr. Guez-Ricord (La mort de l’ ange),
- Sargtexten aus dem alten Ägypten des Mittleren Reiches (La mort de la civilisation),
- einem Gedichtfragment der griechischen Dichterin Erinna (La mort de la voix) und
- der Sintfluterzählung des altbabylonischen Gilgamesch-Epos (La mort de l’humanité). Gemeinsam ist diesen Texten, dass sie eine „fragmentarische Auseinandersetzung mit der Unabwendbarkeit des Todes“ (Grisey) enthalten.

Der Tod des Engels sei das Schrecklichste, so Gérard Grisey über seine vier Todesthemen, denn ihm (dem Engel) seien unsere Träume anvertraut. Guez-Ricords Gedicht kämpft mit der Erkenntnis, dass auch das Vollkommene dem Tod verhaftet ist. Es ist ein Gedicht, das den Widerspruch zwischen der Vorstellung des Engels und der des Todes nicht auflöst, sondern ihn gewissermaßen ins Gedicht selbst lenkt, seinen Anspruch auf Vollkommenheit (den Traum des Dichters, um mit Grisey zu sprechen) durch Entgleisungen der Sprache (unklare und „falsche“ grammatikalische Wendungen) selbst zerstört.   
(Annika Spieker las den französischen Text und gab Hinweise zum Sprachverständnis; das Hören erfolgte dann anhand eines Textblatts, das auch die Textverteilung in der Komposition anschaulich machte).

Der instrumentale Anfang – ein permanentes, unterschiedlich deutliches Hinabgleiten melodischer Linien - führt die Klangsymbolik ein, die den ganzen ersten Satz bestimmen wird: musikalische Zeichen für das Sterben selbst wie für das Trauern über den Tod. Die nur schattenhafte Wahrnehmbarkeit ist bedingt durch die Struktur dieses Instrumentalsatzes als eines Kanons dreier Stimmen unterschiedlichen Metrums. Die drei Stimmen sind nicht identisch bezüglich der Tonhöhenbewegung (der Tonvorrat der drei Stimmen gehört drei unterschiedlichen Arealen des Klangspektrums über dem Ton E an), haben aber die gleiche Phrasengliederung, die auf die Silbenordnung des Gedichttextes rückbezogen ist. Die Kanonstruktur des Instrumentalsatzes wird über fast zwei Drittel des Stücks beibehalten.

Das Auftreten der Vokalstimme hat große Kontrastwirkung; dem haltlosen Hinabgleiten der Begleitstimmen setzt sie das strenge Fixieren von Silben entgegen, dem weichen Bläserklang eine scharfe Artikulation. Für die musikalische Darstellung der Sprache gibt es drei Grundfiguren: Die auffälligste ist der einmalige schnelle Wechsel eines Tons mit einem darüber liegenden (der instrumentale „Pralltriller“), eine Form der melodischen Akzentsetzung. Die zwei weiteren musikalischen Figuren, der kurz angestoßene und der gedehnte Ton, sind musikalisch festgehaltene Phänomene der Versmetrik. Ihre charakteristische Kombination, das Kurz-Lang, ist in diesem Gesang an die beiden wiederkehrenden Ausdrücke mou-rir und comme ange gebunden,
Später wird diese Figur mit dem Wortpaar „moi même" verbunden, und schließlich mit s’est mort. Dabei gewinnt die Stimme an Dominanz und Virtuosität (Hochtöne bis zum c‘‘‘, Hybridformen des „Trillers“ mit Wechselnoten bis zur gr. Sexte), löst sich die Kanonstruktur des Instrumentalsatzes auf und werden die Instrumentalstimmen – nun auch die der Schlaginstrumente - in die Emotionalität der Singstimme unmittelbar hineingezogen.. 

Die Rückentwicklung nach der Peripetie des Stückes, d.h. das Abflauen der Erregung, das Zurücknehmen der extremen Lautstärke, das stufenweise Absenken der Spitzentöne und das Entflechten der Trillerketten, ist auch mit einer Veränderung des Verhältnisses von Vokal- stimme und Instrumentalklang verbunden. Die Trompete nimmt der Singstimme ein paar ihrer hohen Töne ab, die Trillerfigur landet plötzlich im Marimbaphon. Umgekehrt hören wir auf das abschließende comme un ange eine neue Melodik der Singstimme sich entwickeln, mit der die Stimme auf die instrumentale Melodik des Anfangs eingeht. Und dies bedeutet für die Sinnstruktur des Werks, dass im letzten Vers des komponierten Gedichts (comme un ange) die in den instrumentalen Figuren des Anfangs nur „mitzudenkenden“ Textworte nun zu ihrer sprachlichen Gestalt kommen.

Im zweiten Gesang vertonte Grisey Textfragmente von Sprüchen der Totenliturgie, die im alten Ägypten des Mittleren Reichs den Verstorbenen als Sarginschriften auf ihren Weg ins Jenseits mitgegeben wurden. Als Textvorlagen erscheinen sie hier unter den Inventarnummern eines archäologischen Katalogs, zusammen mit anderen Eintragungen dieses Katalogs, die den Erhaltungszustand weiterer Textfunde betreffen. Ein textkritischer Durchgang durch die Vorlage ließ erkennen, dass Grisey sein Sprachmaterial im Sinne des Mottos La mort de la civilisation seines „zivilisatorischen“ Hintergrunds beraubt, dass er es bewusst fragmentiert, Kontexte unterdrückt und Spezifizierungen vermeidet.

Der gute Sinn eines solchen Umgangs mit der Sprache erwies sich im Hören der Komposition: das rezitierende Verlesen von Registerdaten – Reflex des Komponisten auf die Form der Existenz solcher alten Texte in der modernen Welt - wurde als eine Klangbasis erkannt, von der aus jeder darüber hinausgehende Textinhalt und seine noch so geringe melodische Loslösung vom Rezitationston zu großer Wirkung kommt.
Als ein Klangsymbol des Lebens wurde schließlich die dreitönige Figur erkannt, die als instrumentale Begleitung der Stimme das Stück durchzieht, sich von einzelnen Klangimpulsen der Harfe zum vollen Ensembleklang entwickelnd: ein Beispiel für das „biomorphe Komponieren“ Gérard Griseys (Peter Niklas Wilson).
Ein letzter „Hördurchgang“ vollzog am Gang der Singstimme noch einmal den Weg der Komposition zu einer emotionalen Belebung des „toten“ Textes. Die Textkritik des Anfangs relativierend wurde gezeigt, dass gerade das Herauslösen aus den konkreten Sinn-Zusammen-hängen einer vergangenen Kultur die Sprache hier frei macht für eine sehr einfache Aussage über die Angst und die Jenseitshoffnung des Menschen, der vor der „Schwelle“ steht.

Der dritte Satz vertont ein Gedicht-Fragment der griechischen Dichterin Erinna, die um 350 v. Chr. auf der Insel Telos lebte. Sie wurde nur 19 Jahre alt; ihr fragmentarisch erhaltenes Hauptwerk ist eine Totenklage auf eine verstorbene Freundin.

Die musikalische Fassung des von Grisey ausgewählten Gedichts ist ein Nachruf im buchstäblichen Sinne: der Gestus des Hinabrufens ist das deutlichste musikalische Kennzeichen des Stücks. Jede der vier Gedichtzeilen wird vom Komponisten als Versuch interpretiert, von der Welt der Lebenden aus mit der Welt der Toten in Verbindung zu treten.
Die Rufe beginnen in hoher Lage, klanglich reich ausgestattet, bewegen sich in Wellen nach unten und enden in schwer zu definierenden Klangspuren der tiefen Blasinstrumente. Die Vokalstimme ist – in Schönbergscher Art – als Hauptstimme bezeichnet,  die Nebenstimmen (Violine, Violoncello) sind schemenhafte Projektionen der (anfangs noch diatonischen) Hauptstimme in spektral organisierte Klangfelder.

Das auffälligste Gestaltungsmittel des Stückes ist die Verhallung, eines der akustischen Naturphänomene, an denen der „Spektralist“ Grisey von Hause aus interessiert gewesen sein muss. Sie betrifft natürlich in erster Linie die „rufende“ Vokalstimme, deren Linie vom Vibraphon in geringem Zeitabstand nachgezogen wird, und deren Phrasen nach dem dritten Takt als Echos verkürzt wiederkehren. Auch im Aufbau des Themas selbst - mit seiner zweifachen Wiederholung der Terz a-cis - ist das Prinzip der Verhallung schon wirksam. Seine Gestalt wirkt wie von Rückkopplungseffekten des eigenen Rufens zusammengedrückt: Vergeblichkeit der Kommunikation (la mort de la voix) schon am Beginn des Stückes!

Die weiteren Rufe bekommen zeitlich immer mehr Raum, das Echo wird dabei in die Ferne verlagert und verschwindet schließlich ganz: Im letzten Abschnitt wird der Text in verkürzenden Repetitionen abgebaut, während die chromatisch streng absteigende melodische Linie jede musikalische Repetition verhindert. Die Stimme „verliert sich im Schatten“.
Die letzte, aber durchaus vorausweisende Klangaktion des 3. Satzes ist ein Unisono aller Melodieinstrumente: dreimal vollziehen sie vom Ton a aus einen Abwärtsschritt auf das vierteltönig erhöhte g (g+), also das Intervall eines Dreivierteltones, wobei außer der mikrotonalen Klangcharakteristik auch eine eigentümliche dynamische Verlaufsform auffällt:
Der Ausgangston schwillt dynamisch an und kippt auf dem Scheitelpunkt dieser Steigerung auf den tieferen Zielton ab, auf dem sich die Dynamik ebenso stufenlos wieder zurück- entwickelt.
Dieses rätselhafte Klangsignal kehrt in dem auf den dritten Satz folgenden Verbindungsabschnitt („faux interlude“) wieder, wo es – zusammen mit immer deutlicher werdenden Repetitionsklängen der Trommeln – den Klanghintergrund für die im nächsten Satz folgende musikalische Szene aufbaut.

“Handlung“ und Text dieses vierten Gesanges entnahm der Komponist dem aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr. stammenden Gilgamesch-Epos: Uta-napischti, (die Gestalt des „Noah“ im Alten Testament) erzählt dem Helden Gilgamesch, wie er die Sintflut erlebt hat.
Das Stück beginnt mit einer rein instrumentalen Schilderung der Sintflut: zunächst mit einer kanonisch aufgebauten „Sinfonia“ der Trommeln, in der sich ähnliche Verlaufsformen der Dynamik überlagern, wie sie am oben erwähnten melodischen Signal zum Ende des 3. Satzes zu beobachten waren. Auf dem Höhepunkt der dynamischen Steigerung erfolgt jeweils die Fortsetzung der Schlagrepetitionen auf einer dunkler klingenden Trommel und in vermindertem Schlagtempo, was eine Art Doppler-Effekt und entsprechende Raumwirkung hervorruft.
In das Donnern und Prasseln dieser klangmalenden Musik mischen hektisch auffahrende Gesten der Bläser die Farben auflodernder Flammen. An dem immer dichter werdenden Klangtumult beteiligt sich dann auch die Singstimme: mit einem Angstschrei (auf die Silbe „la“) und mit atemlosem Aufreihen aller Nomina des Berichts (Bourrasques, Pluies battantes, Ouragans et Déluge...). Die Wortreihungen kehren in abnehmenden Schüben wieder und dazwischen wird das geschrieene „la“ zum allmählich verständlichen Satz la mer se calma et s’immobilisa, an dem und mit dem sich das musikalische Inferno schließlich beruhigt. 

Der letzte Teil des aus dem Gilgamesch-Epos entnommenen Texts ist eine Totenklage – auf die ganze Menschheit. Uta-napischti hat die Luke seiner Arche geöffnet und betrachtet weinend die leer gewordene Welt.
Grisey komponierte für diese Szene eine Art Wiegenmusik (calme comme une berceuse). Das Stück beginnt in ruhigem Taktmaß, mit einer kleingliedrigen, das Metrum reizvoll variierenden Melodik, in der der Flötenklang dominiert. Die Singstimme pendelt im Rahmen der Quinte  d – a  auf und ab. Diese Konstellation kehrt mehrmals wieder bis hin zum ausgedehnten Schlussteil, wobei die Singstimme auf der vertrauten Quintbasis verbleibt, während der Instrumentalsatz im gewählten Klangspektrum immer weiter nach oben rückt.
Mit der beschriebenen Konstellation alterniert eine mit gegenläufiger Tendenz: Abschnitte, in denen der Instrumentalsatz grundierenden und verharrenden Charakter hat, in denen sich die Vokalstimme hingegen immer raumgreifender entwickelt. Ausgerechnet auf das Textwort immobile steigert sie sich in immer gewagtere Melismen und in eine auskomponierte Solokadenz hinein: Ein selbst inszenierter Verstoß gegen die Stimmigkeit des Werks, und darin auf den ersten Gesang und seinen Gedichttext zurückweisend. 

Dabei gehört der Satz Je tombai à genoux, immobile, et pleurai zu den eindrucksvollsten und „verständlichsten“ Stellen des Sintflut-Berichts, und es überrascht, dass Grisey dieses  (et) pleurai nicht in Musik gesetzt hat. Die Stimmexaltationen, die es gerechtfertigt hätte, sind stattdessen mit dem Wort immobile verbunden. Grisey setzt einen Widerspruch an die Stelle der Trauer, ein Aufbegehren gegen den Tod, das auch die Form der Berceuse - die doch auch als Schlaflied für Tote etwas Mildes und Versöhnliches aussagen könnte – selbst in Frage stellt. Denn versöhnlich soll diese Berceuse tatsächlich nicht sein: Es ist Gérard Griseys eigenes Wort, dass sie „nicht für das Einschlafen, sondern zum Erwachen“ gedacht sei.

 

Die komponierten Texte:

I – D’après „Les heures á la nuit“ de Guez Ricord [La mort de l’ange]

De qui se doit
de mourir
comme ange

comme il se doit de mourir
comme un ange
je me dois
de mourir
moi méme

il se doit son mourir
son ange de mourir
comme il s’est mort
comme un ange

II – D’après Les Sarcophages Egyptiens du Moyen Empire [La mort de la civilisation]

n° 811 et 812:
(presque entièrement disparus)
n° 814:
“Alors que tu reposes pour l’eternité...“
n° 809:
(détruit)
n° 868 et 869:
(presque entièrement détruits)
n° 870:
“J‘ai parcouru ...
j‘ai été florissant ...
je fais une déploration ...“
“Le lumineux tombe à l’intérieur de ...“
961 et 963:
(détruits)
972:
(presque entièrement effacé)
n° 973:
„qui fait le tour du ciel ...
jusqu’aux confins du ciel...
jusqu’à jusqu’à l’étendue des bras ...“
“Fais moi un chemin de lumière,
laisse-moi passer, “
n° 903:
(détruit)
n° 1050:
“formule pour être un dieu ...“

III – D’après Erinna [La mort de la voix]

Dans le vide d’en bas
L’écho en vain dérive
Et se tait chez les morts
La voix s’épand dans l’ombre

IV – D’après l’Epopée de Gilgamesh [La mort de l’humanité]

Bourrasques, Pluies battantes,
Ouragans et Déluge
Tempête, Déluge et Hecatombe

Après avoir distribué leurs coups au hasard
comme une femme dans le douleurs,
La mer se calma
et s’immobilisa.

Je regardai alentour
tous les hommes étaient
retransformés en argile

(Berceuse)

J‘ouvris une fenêtre
Et le jour tomba sur ma joue
Je tombai, immobile
Je regardai l’horizon
De la mer, le monde.