1. Situierung des Textes

Im Jahr 1968 hielt Emmanuel Levinas im Rahmen der seit 1948 jährlich stattfindenden Woche der katholischen Intellektuellen einen Vortrag. Die „semaine des intellectuelles catholiques“ fand vom 6. bis 13. März 1968 im Centre Catholique des Intellectuels Français in Paris statt. Sein Beitrag, der im Kontext der vorletzten von insgesamt sieben Sektionen zum Jahresthema „Qui est Jésus-Christ?“ angesiedelt wurde, trägt dieselbe Überschrift wie die Sektion selbst: „Un Dieu Homme?“ [Zuerst veröffentlicht in: René Rémond, Hg., Qui est Jésus-Christ? Semaine des Intellectuels Catholiques (6-13 mars 1968). Paris 1968, 186–192. Wieder abgedruckt in: Emmanuel Lévinas, Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre. Paris 1991, 64-71. Die deutsche Übersetzung besorgte Frank Miething unter dem irreführenden Titel: „Menschwerdung Gottes?“, in: Emmanuel Lévinas, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. München 1995, 73–82. Eine revidierte, zudem kommentierte Übersetzung unter dem geeignerteren Titel Ein Gott Mensch? ist jüngst erschienen in: Rolf Kühn, Hg., Religio und passio. Texte zur neueren französischen Religionsphilosophie. Würzburg 2014, 40–49 (zit. als: GM).]

2. Der kenotische Argumentationsgang

„Das Problem des Gott-Menschen enthält auf der einen Seite den Gedanken einer Erniedrigung [l’idée d’une humiliation], die sich das höchste Wesen auferlegt, eines Abstiegs des Schöpfers auf die Ebene der Geschöpfe, das heißt eines Aufgehens der aktivsten Aktivität in der passivsten Passivität.“ (GM 40)
„Wenn das ganz Andere sich mir zeigt, kehrt seine Wahrheit dann nicht eben dadurch in den Kontext meiner Gedanken ein, um daraus einen Sinn zu schöpfen, und in meine Zeit, um ihr gleichzeitig zu werden? Jede Störung wird letztlich eingeordnet, wodurch eine weitere und komplexere Ordnung sichtbar wird.“ (GM 42)
„Sich demütig zeigen, als Verbündeter der Geschlagenen, der Armen, der Gehetzten – das heißt genau nicht, sich in die Ordnung eingliedern. In diesem Nichtkämpfenwollen, in dieser Schüchternheit, die nicht wagt zu wagen, diesem An-Spruch, der nicht die Stirn hat, Ansprüche zu erheben und das genaue Gegenteil der Frechheit ist, durch diesen Anspruch eines Bettlers und Heimatlosen, der nichts hat, wohin er sein Haupt legen könnte – der Gnade des Ja oder Nein desjenigen, bei dem er anklopft, ausgeliefert – ist der Demütige absolut störend; er ist nicht von dieser Welt.“ (GM 43)

3. Der messianische Argumentationsgang

„Das Problem [des Gott-Menschen] enthält andererseits, wie als Folge dieser in der Passion bis zur äußersten Grenze getriebenen Passivität, den Gedanken einer Sühne für die Anderen, das heißt eines Einspringens für Andere, einer Substitution: Das Identische par excellence, das nie austauschbare, das Eine schlechthin, wäre demnach die Substitution selbst.“ (GM 41)
„Das Ich ist in sich, eingepfercht in sich, ohne Zuflucht zu irgend etwas in seiner Haut – unwohl in seiner Haut –, wobei diese Inkarnation keinerlei metaphorischen Sinn hat, sondern der allerwörtlichste Ausdruck einer absoluten Rückläufigkeit (récurrence) ist, die jede andere Sprache nur annähernd wiedergeben könnte. Das Selbstsein ist kein inkarniertes Ich, zusätzlich zu seiner Verbannung in sich, diese Inkarnation ist schon seine Verbannung in sich, ein der Beleidigung, der Anklage, dem Schmerz Ausgesetzt-sein.“ (GM 48)
„Ich sein heißt, immer eine Verantwortung mehr zu tragen. […] Das Mich ist derjenige, der vor jeder Entscheidung schon erwählt ist, die ganze Verantwortung der Welt zu tragen. Der Messianismus ist eben dieser Höhepunkt im Sein – die Umkehrung des Seins, das ‚in seinem Sein beharrt’ – der in mir seinen Ausgang nimmt.“

4. Die Relevanz für die Christologie

(1.) Die Demut Jesu und die Fraglichkeit der Präsenz Gottes
(2.) Der Leib Jesu und die Passivität der Inkarnation
(3.) Die Nachfolge Jesu und das messianische Volk

Wer war Emmanuel Levinas?

„Als Sohn jüdischer Eltern am 12. Januar 1906 in Kowno (Kaunas) geboren, vor dem Ersten Weltkrieg in die Ukraine geflohen, nach der Russischen Revolution in die litauische Heimat zurückgekehrt, zum Studium nach Straßburg und Freiburg gezogen, bald französischer Staatsbürger und Doktor der Philosophie, während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland kriegsgefangen, seiner Verwandtschaft durch den nationalsozialistischen Völkermord beraubt, nach Kriegsende zum Direktor eines jüdischen Bildungshauses in Paris ernannt, später als Professor für Philosophie nach Poitiers, Nanterre und schließlich an die Sorbonne berufen, starb Emmanuel Levinas, vom Alter gezeichnet, am 25. Dezember 1995.“ (Christian Rößner, Anders als Sein und Zeit. Zur phänomenologischen Genealogie moralischer Subjektivität nach Emmanuel Levinas. Nordhausen 2012, 19).